Odysseus hätte eine Maske getragen

Ein Kommentar zum Podcast „Die sogenannte Gegenwart“

von Paul Weinheimer

 

Was für die einen eine sakrale Errungenschaft darstellt, ist für die anderen das neue Symbol gesellschaftlicher Unfreiheit: Die Corona-Maske führt seit dem Beginn der Pandemie zu einer Polarisierung. Maske, ja oder nein? – das scheint für beide Lager immer schon beantwortet. Ihr Selbstverständnis lässt ihnen keine Wahl mehr. Und so stehen sie sich in einem Kampf gegenüber: Auf der einen Seite die Hohepriester im feinsten Maskenstoff, auf der anderen der widerständige Freiheitskampf, der sich der Maskenschau verweigert. Hier Maskenstolz, da Maskenwut. Während der Maskenstolz durch die moralische Vormachtstellung das „Richtige“ zu tun entsteht, ist die Maskenwut Zeugnis einer Rebellion gegen das staatliche Diktat. 

Klar ist in jedem Fall, dass die Corona-Maske nicht bloß Schutzkleidung ist, sondern auch ein Objekt mit Symbolkraft.

Bearbeitung Bild: Elisabeth Boßerhoff
Bearbeitung Bild: Elisabeth Boßerhoff

 

Zunächst eins nach dem Anderen. Ausgangspunkt dieses Blogposts ist die letzte Folge des Podcasts „Die sogenannte Gegenwart“ (Folge vom 19.09.2022). Dort untersuchen die Redakteure Ijoma Mangold und Lars Weisbrod die Frage der Symbolik der Maske. Weisbrod führt den Odysseus-Mythos an, um den entwürdigenden Aspekt der Maske allegorisch herauszustellen.

Im Mythos tritt Odysseus nach dem trojanischen Krieg die Rückreise nach Ithaka an. Dabei kommt er mit seiner Gefolgschaft an einer Insel vorbei auf der „die Sirenen“ leben. Mit ihren bezirzenden Stimmen versuchen sie Seefahrer auf die Insel zu locken, um diese zu töten. Odysseus, der sich dieser Gefahr bewusst ist, wendet daraufhin einen Trick an: Er versiegelt die Ohren seiner Ruderer mit Wachs und lässt sich selbst an den Mast des Schiffes binden, um so den Sirenen lauschen zu können, der Verlockung aber nicht zu erliegen.

So widersetzt sich Odysseus dem Naturzwang. Sein Trick bewahrt ihn zum Preis des Selbstzwangs vor dem Tod. Ebendieses Moment stellt Weisbrod im Podcast als eine Entwürdigung heraus: Es sei zwar klug, jedoch auch „irgendwie peinlich“ so am Mast zu kleben. Ein ähnliches Gefühl habe er auch beim Tragen einer Maske, die eine ähnliche Funktion erfülle (sich vor der Natur zu schützen), jedoch ein Moment der menschlichen Entwürdigung vermittle. Weisbrods Interpretation der mythologischen Szene hebt den entwürdigenden Charakter des Selbstzwangs hervor. In diesem kritischen Licht erscheint dann auch der Selbstzwang der Maske. Ein Maskenstolz sei somit fehl am Platz. Die Naturbeherrschung, die Beherrschung des Virus, das ist ihm wichtig, geht durchaus mit Kosten einher.

 

Auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gehen in ihrer Dialektik der Aufklärung auf die mythologische Szene der Odyssee ein.‍[1] Sie sehen darin den Triumph der inneren über die äußere Natur, der, vermittelt über die instrumentelle Vernunft, in einer totalen Herrschaft mündet. Hier liegt der Fokus nicht auf der entwürdigenden Selbstauslieferung, sondern auf der instrumentellen Beherrschung der Natur und also auch des Menschen. Mit Adorno und Horkheimer könnte man also noch weiter gehen und die Maske als Zeichen gesellschaftlicher Oppression (einer Herrschaft über die innere und äußere Natur) zur Disposition stellen. Versteht man die Maske als Entwürdigung oder Zeichen einer totalen Herrschaft, dann wird die Entstehung der Maskenwut durchaus verständlich. Man ist wütend darüber, nicht selbst entscheiden zu können, unterdrückt zu werden, und das letztlich unabhängig davon, ob ein Zwang wirklich besteht.

 

Aber kann die Maske nicht auch in einem positiveren Licht erstrahlen? Kann sie nicht auch als Zeichen des aktiven Handelns gewertet werden? Liegt die Kraft der Maske, abseits des Kulturkampfs, nicht eher in der Befreiung von der Ohnmacht und in der Eröffnung eines neuen Weltverhältnisses in Bezug auf das Virus? Hierzu bietet der Soziologe Niklas Luhmann einen theoretischen Ansatz. Neben der Selbstisolation und verschiedenen Hygienemaßnahmen war die Corona-Maske eine der ersten Möglichkeiten, das eigene Ansteckungsrisiko zu reduzieren. Damit transformiert sich das Virus nach Luhmann von einer Gefahr zum Risiko. Während die Gefahr eine Bedrohung darstellt, die uns als ein exogener, zukünftiger und eben potenziell gefährlicher Schaden gegenübersteht, zeichnet sich das Risiko durch die Möglichkeit aus, mit eigenen Entscheidungen auf die Bedrohung einzuwirken.

Luhmann selbst drückt dies wie folgt aus:

 

Die Unterscheidung setzt voraus (und unterscheidet sich dadurch von anderen Unterscheidungen), daß in Bezug auf künftige Schäden Unsicherheit besteht. Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wird der etwaige Schaden als Folge der Entscheidung gesehen, also auf die Entscheidung zugerechnet. Dann sprechen wir von Risiko, und zwar vom Risiko der Entscheidung. Oder der etwaige Schaden wird als extern veranlaßt gesehen, also auf die Umwelt zugerechnet. Dann sprechen wir von Gefahr.‍[2]

 

Luhmann lehnt den Begriff der „Sicherheit“ als Antipoden der Gefahr ab. Alle „Sicherheitsentscheidungen“, die wir treffen, resultieren im Risiko. Entscheidend ist jedoch, dass sich unsere Wahrnehmung ändert, je nachdem, ob wir es mit einer Gefahr oder einem Risiko zu tun haben. Das Gefühl, einer Bedrohung etwas entgegenstellen zu können, beruhigt. Die Angst, in einem Flugzeug zu sterben, ist somit viel verbreiteter als aufgrund eines Autounfalls. Statistisch gesehen ist das Flugzeug als Transportmittel jedoch wesentlich sicherer als das Auto. An dieser Stelle zeigt sich der psychologische Effekt des „Ins-Handeln-Kommens“, oder wie Luhmann es ausdrücken würde: die Gefahr ins Risiko transformieren. Die Maske vermag es neben ihrer tatsächlichen medizinischen Wirkung, den Menschen so aus seiner Passivität des Ausgeliefertseins, seiner Ohnmacht, zu befreien. Müssten wir die Maske nicht insoweit als Symbol einer Befreiung verstehen, die sich jedoch viel langsamer und viel prekärer darstellt als es der eigene Stolz erhofft, die sich nämlich nur im praktischen Vollzug erweist, was sie für die Instrumentalisierung im Kulturkampf so anfällig macht?

 

Auch der von Weisbrod, Adorno und Horkheimer angeführte Odysseus Mythos bietet eine alternative Lesart. So beschreibt etwa Peter Sloterdijk Odysseus als den Prototyp eines sophistischen Helden, der es durch seine List schafft, den „Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unbeholfenheit“‍[3] zu befreien. Das Bild des gefesselten Menschen steht hier nicht mehr für einen entwürdigenden Selbstzwang, sondern verkehrt sich in das Gegenteil. Odysseus erstrahlt im Lichte eines listigen Helden, der die Gefahr der Natur in ein Risiko transformiert. Die List besteht darin, dem Naturzwang – und damit dem Tod – zu trotzen, während er sich gleichermaßen den verlockenden Klängen der Sirenen hingeben kann.

In diesem Zuge kann man die Corona-Maske auch als ein Symbol menschlichen Aufbegehrens gegen die Gefahr – gegen das Virus – und damit gegen den Naturzwang werten. Ist das ein Grund, stolz zu sein? Medizinische Errungenschaften sind ohne Zweifel ein Teil menschlichen Fortschritts, für den man dankbar und auf den man stolz sein kann. Die Maske bietet aber vor allem die Möglichkeit selbst zu Handeln und stärkt damit das Gefühl der Selbstwirksamkeit, ihre praktische Möglichkeit verändert unser Weltverhältnis und trotzt der eigenen Ohnmacht. All dies vermag sie aber ironischer Weise nur, wenn man Maskenstolz und Maskenwut hinter sich gelassen hat.

 

Was hätte Odysseus also getan? Jedenfalls der sophistische Held Odysseus hätte von der Möglichkeit der Maske Gebrauch gemacht, vielleicht wäre er über diese List gegen die Natur sogar stolz gewesen, nur hoffentlich nicht zu stolz.


Fußnoten

  1. Vgl. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (1944): Dialektik der Aufklärung. Fischer, S. 34 ff.
  2. Luhmann, Niklas (1991): Soziologie des Risikos. Walter de Gruyter, S. 30 f.
  3. Sloterdijk, Peter (2016): „Odysseus der Sophist. Über die Geburt der Philosophie aus dem Geist des Reise-Stress“, in: Was geschah im 20. Jahrhundert? Suhrkamp, S. 289.