Zur Berechenbarkeit der Zukunft

von Tim Burschyk

 

Der gläserne Mensch. Es ist soweit, der Algorithmus weiß mehr als du. Unser Alltag wird durchsichtig und vorhersagbar. Jedes Smartphone ist ein unermesslicher Datenschatz. Auf der Grundlage unseres täglichen Verhaltens kann statistisch unser zukünftiges Verhalten vorhergesagt werden. Beispiele finden sich überall. Nur, wenn es um Gefühle geht, können die Daten uns Menschen nicht beschreiben. Gefühle sind unberechenbar. Denkst du – bis Parship dir die Liebe deines Lebens vermittelt.

Abb. 1: Langzeitbelichtung eines Doppelpendels
Abb. 1: Langzeitbelichtung eines Doppelpendels

Auch in der Medizin ist der Durchbruch nicht mehr weit. Wir werden das Gehirn in seiner Gesamtheit verstehen, wie eine logische Schaltung. Es liegt so nah: Synapse an, Synapse aus – eins und null. Die Datenströme des Gehirns liegen blank. Und wenn das Gehirn erst verstanden wurde, ist dann nicht eine generelle Aussage über unser Verhalten möglich?

 

Berechnung und Approximation. Der Schein täuscht. Wenn wir davon sprechen etwas zu berechnen, ist dies selten der Fall. Eine exakte analytische Lösung eines mathematischen Problems ist der Exot unter den Lösungen. Viel öfter lässt sich die gemeine Näherung antreffen. Stets wird die kontinuierliche Realität in ein diskretes Modell überführt. Das Modell ist weder richtig noch falsch, es ist mehr oder weniger geeignet und wird der gewünschten Genauigkeit angepasst. Zum Beispiel werden oft Annahmen getroffen, die den komplexen Sachverhalt vereinfachen, ohne dass die Grundaussage verloren geht. Wenn bereits das Modell vereinfacht ist, kann die Lösung nicht mehr exakt sein. Die Berechnung auf zwölf Kommastellen suggeriert jedoch sehr hohe Genauigkeit, es scheint exakt. Die gefühlte Wahrheit verbirgt sich in den Zahlen des Modells, nicht in der Realität.

Abb. 2 Trajektorie eines idealisierten Doppelpendels
Abb. 2 Trajektorie eines idealisierten Doppelpendels

Nichtlinearität. Ein gutes Beispiel für eine schwierige Modellbildung stellt ein Doppelpendel dar. Ein Doppelpendel besteht aus zwei gelenkig miteinander verknüpften Stangen, die an einem Ende fest gelagert sind. Dieses System besitzt zwei Freiheitsgrade: Die Auslenkung des Winkels zwischen der ersten Stange und des Lagers und die Auslenkung des Winkels zwischen der zweiten und der ersten Stange. Mathematisch wird die Bewegung des Doppelpendels durch zwei miteinander gekoppelte nichtlineare Differenzialgleichungen beschrieben, die sich analytisch nicht lösen lassen. Der Grund dafür ist die Nichtlinearität. Es können Annahmen getroffen werden, die das Lösen vereinfachen. Wenn die Auslenkungen des Pendels sehr gering sind, kann eine Linearisierung um die Ruhelage vorgenommen werden. Dabei werden die trigonometrischen Funktionen durch eine Taylorreihe ersten Grades angenähert.

 

Für größere Auslenkungen ist diese Approximation nicht zulässig und eine Lösung muss mithilfe einer numerischen Berechnung gefunden werden. Wenn wir bei der Vorhersage der chaotischen Bewegung des Doppelpendels an die Grenzen des Möglichen stoßen, wie wollen wir die Gehirnströme simulieren?

 

Schmetterlinge. Um ein Problem mit Hilfe eines Computers zu lösen, wird es numerisch implementiert. Die Skalare und Vektoren haben alle eine endliche Länge – irgendwann wird die letzte Ziffer abgeschnitten. Wie die Genauigkeit unter der Vereinfachung leidet, kann nicht nur beim Doppelpendel, sondern auch bei der Wettervorhersage betrachtet werden. Kleinste Druckunterschiede über dem Amazonas führen nach Tagen zu absolut unterschiedlichen Wettervorhersagen in Europa. Ein englisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: Climate is what we expect, weahter is what we get. Minimalste Schwankungen in den Anfangsbedingungen führen zu unterschiedlichen Aussagen. Dieses Phänomen nennt sich deterministisches Chaos. Es regnet nie, wenn der Regenschirm eingepackt wurde. Mangel an Berechenbarkeit. Unsere Methoden und Modelle werden immer feiner und die Rechenleistung unserer Computer steigt. Das bedeutet, dass auch unsere Voraussagen zutreffender werden. Bei dem aktuellen Zuwachs an Wissen beschleicht einen das Gefühl, die Zukunft exakt bestimmen zu können.

 

Diese Entwicklung ist gewollt, sie wird uns durch unsere Sprache vermittelt: Im Portugiesischen werden zukünftige Handlungen mit dem Konjunktiv ausgedrückt. Die Zukunft ist ungewiss. Im Deutschen wird über die Zukunft im Präsens gesprochen – wann treffen wir uns? Nach der Logik der Sprache müssten wir die Zukunft kennen. In der deutschen Sprache versuchen wir Unsicherheit zu vermeiden. Wie sehen wir die Zukunft? Findet die Gegenwart schlicht morgen statt, oder ist das Unpräzise womöglich korrekter? Demnach teilt sich das Problem der Vorhersagbarkeit in zwei Bereiche auf: Können und Wollen. Das Können besteht darin, inwieweit wir technisch und mathematisch in der Lage sind die Zukunft vorherzusagen. Die bereits beschriebenen Phänomene, und es könnten noch wesentlich mehr sein, haben eine klare Aussage. Die Approximation verliert Genauigkeit, die in den Anfangsbedingungen vieler Problemstellungen absolut entscheidend ist. Die Technik kann Überraschungen nicht ausschließen.

 

Der Wille etwas vorherzusagen ist groß: Wetter, Naturkatastrophen, die Wirkung von Medikamenten, die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, die Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben, die Reaktion meines Gegenübers und seine Gedanken sind nur einige Beispiele unserer Wissbegier. Wir dürfen nur nicht vergessen, dass Vorhersagen immer Unsicherheiten enthalten. Die Zukunft passiert nicht morgen, sie könnte morgen passieren. 

 

Dieser Artikel erschien in dem Prothese Magazin #1 (2016) zum Thema Mangel.