Über All of Us Strangers als intime Erzählung einer kollektiven Krise
von Marie-Louise Bartsch
René Pollesch ist kürzlich bestürzender Weise gestorben und ich habe Andrew Scott und Paul Mescal auf Leinwand gesehen. Was es mit diesem scheinbar flapsigen Parallelismus auf sich hat? Nun, erstmal gar nichts und doch eine Rezeptionshaltung, die sich retrospektive über den gesamten Film legt.
Gedanken zur westlichen Popmusik
von Art W. Groll
Spätestens seit in den 80er Jahren als Fuck Tha Police von N.W.A die Welle machte und bis zur gewaltsamen Auflösung von Konzerten führte, ist bekannt: Musik ist irgendwie politisch. Das fühlt man deutlich in dem Moment, in dem sich Musik der Sprache bedient. Aber auch in der zeitgenössischen Konzeptmusik steht der politische Charakter der Musik außer Frage. Johannes Kreidlers Fremdarbeit ist ein Paradebeispiel: Der Komponist kassierte eine Fördersumme ein und ließ einen chinesischen Komponisten und einen indischen Audioprogrammierer für einen Bruchteil der Summe einige Stücke komponieren mit dem Auftrag, die Stücke sollen klingen, als seien sie von ihm persönlich komponiert worden.
Über Annie Ernauxs späte filmische Autosoziobiographie Les Années Super 8
von Eva Blome
Die Texte Annie Ernauxs sind, nicht erst seitdem ihr 2022 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, auch im deutschsprachigen Raum bekannt. Vielmehr erfreuen sich Ernauxs Bücher in den vergangenen Jahren, seit ihrer Wiederentdeckung für den deutschsprachigen Buchmarkt, eines immensen Erfolgs. Auch innerhalb des literaturwissenschaftlichen Diskurses stoßen sie auf großes Interesse – angefangen, und es seien hier nur einige wenige der Vielzahl an literarischen Titeln Ernauxs genannt, bei ihrem literarischen Erinnerungsbild an ihren Vater, La Place / Der Platz von 1984, und ihrem Mutterbuch Une Femme / Eine Frau von 1987, über ihr wahrscheinlich meist beachtetes und mehrfach preisgekröntes Werk Les années / Die Jahre, das 2008 in Frankreich, aber erst 2017, im Rahmen der Renaissance von Ernaux, in Deutschland erschien, bis zu ihrem jüngsten literarischen Text, Le jeune homme / Der junge Mann.
Über feministische Disstracks unserer Gegenwart
von Juliane Ostermoor
Liebeskummer lohnt sich nicht, my Darling? Die Musikerinnen Miley Cyrus und Shakira beweisen aktuell das Gegenteil, indem sie gekonnt ihre Ex-Beziehungen inszenieren und damit äußerst erfolgreich sind. Das neue Motto lautet: „Women no longer cry, women make money“.
von Art W. Groll
Die HBO-Serie The Last of Us (2023), über die aktuell überall diskutiert wird, kippt wieder einmal Öl ins Feuer der US-amerikanischen Prepper-Kultur. Passend zur Endzeitstimmung der Corona-Pandemie geht es darin um einen hochansteckenden Pilz, der die Menschen weltweit infiziert und den gesamten Globus von heute auf morgen in eine dystopische Horrorwelt verwandelt. Wie in dem Survival-Computerspiel, auf dem die Serie basiert, sind die einzigen Überlebenden ein paar Glückspilze und natürlich die, die es immer gewusst haben: Die Prepper.
Über Lucas Guadagninos neuen Film Bones and All und den Doppelcharakter der Entfremdung
von Marie-Louise Bartsch
Es gibt Filme, die uns mit Coming-of-Age-Stories liebevoll an unser eigenes Erwachsen-Werden erinnern und es gibt solche, die uns in gut verdrängte Jugend zurückwerfen. So reaktivierte die Horror-Romanze Bones and All ungewollt mein 15-jähriges, in provinzieller Einöde sozialisiertes Ich: Kannibalismus im Film erinnert mich an eine Zeit, in der Horrorfilme notwendigerweise das Wochenend-Highlight waren. Denn gerade noch zu jung, um mit Muttizettel das Ticket für die Kleinstadt-Disco einzufahren, war man doch alt genug, um in der 16+ Abteilung der dorfeigenen Videothek ein sattes Paket an Horror, Splash und Co. einzuholen.
von Robert Weitkamp
Als ich in der Pubertät war, so mit 13 oder 14, waren meine Freund*innen und ich Punks. Als Punk muss man provozieren, sonst ist man kein Punk. Deshalb wollte eine*r von uns Punks dringend mit einem T-Shirt in die Schule gehen, das genau diese Provokation versprach: Es war knallrot, auf der Brust ein weißer Kreis, darin ein schwarzer Galgen. Darunter stand: “Dem deutschen Volke”, darüber der Name der Band: “Terrorgruppe”. Geil!
von Art W. Groll
Es ist wieder Weihnachten. Das merke ich daran, dass ich erschöpfend viel Zeit noch schnell bei Amazon verbringe und sich lange angespannte Schlangen vor den Kassen scharen. Konzentrierte Augen gleiten über die himmlischen %e und ekstatische Mengen schieben sich durch die Regale voller fröhlicher Reklame. Es ist kein ausgelassener Rausch, es ist kalt und die Stimmung ist ernst. Es geht um etwas. Wir feiern die Geburt des kleinen Christuskindes in seiner lieben Holzkrippe, die Geburt des Heilands, geboren von der Jungfrau Maria und seinem Adoptivvater Josef.
Für eine demokratische Ethik der Identitätspolitik
von Jonas Lang
Unter dem Titel ‚Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit‘ veranstaltete die liberal-konservative Denkfabrik „Republik 21“ am 7. November eine Konferenz, um über die Gefahren für eine bürgerlich-liberale Gesellschaft zu sprechen, welche in ihren Augen vom Phänomen der linken woken Identitätspolitik ausgehen. An dieser Stelle sei nur stichwortartig an die jüngste Vorgeschichte dieses mittlerweile zum medialen Leitthema avancierten Diskurses erinnert. Bei einer Demo von ‚Fridays for Future‘ wird eine Künstlerin mit Dreadlocks wegen des Vorwurfs der kulturellen Aneignung ausgeladen. Die Kabarettistin Lisa Eckart darf in Hamburg nicht spielen, weil sie vorher durch antisemitische Witze aufgefallen war.
Im neuen Film „Rheingold“ erzählt Fatih Akin die Geschichte des Rappers Xatar. Eine Rezension.
von Paul Weinheimer
Bonn 2012. Mit leuchtenden Augen standen wir auf dem Schulhof beisammen. Der Asphalt reflektierte die Hitze. Vor uns der Mitschüler, der zehn verpackte CDs zur Hälfte des Ladenpreises im Angebot hatte. 2012 sollte nicht nur unser letztes Schuljahr werden, es war auch das Erscheinungsjahr des neuen Xatar-Albums 415. Xatar, ein Bonner Straßenrapper, der wegen eines verurteilten Goldraubs im Gefängnis saß, hatte das besagte Album während seiner Haftzeit aufgenommen. Als Titel wählte er passenderweise seine Gefangenennummer 415. Die CD zum halben Preis, das war ein guter Deal. Peinliche Nachfragen verkniffen wir uns, denn irgendwie wollte man ja auch „Straße sein“. Ein finster dreinblickender Xatar starrte uns jetzt von dem frisch erworbenen Album an. Tätererkennungsbilder, Fingerabdrücke und das verhängte Strafmaß zierten das Cover. Das Album sah aus wie eine Strafakte.
von Zarbanou Zamani*
Abflughalle Frankfurt/Main. Die Schlange vor dem Schalter der staatlichen Fluglinie IranAir ist lang. Gespannt schaue ich mich um. Männer und Frauen mit scheinbar operierten Nasen, gefärbten Haaren und Trolleys voller Koffer. Ein paar Stunden später, nach der Landung unseres Fliegers in Teheran, werden die Haare der Frauen nicht mehr zu sehen sein. Spätestens mit dem Anflug der Hauptstadt der Islamischen Republik Iran werden die Frauen in ihren Taschen kramen, um das Kopftuch und den Manto (eine Art Mantel, der die Hüften bedecken soll) hervorzuholen. Weibliche Haare und Hüften sind etwas, was in der iranischen Öffentlichkeit nach Vorstellung des Regimes nicht sichtbar sein darf.
Über Empörungen, Gewaltlosigkeit und die Ästhetik des Radikalen
von Fabian Endemann
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich der französische Impressionismus als Avantgarde der Moderne. Keineswegs unumstritten hatten sich die „Impressionisten“ mit einer neuen Motivwahl und Arbeitstechnik hervorgetan. Es war Claude Monet, der seine Freunde anhielt es ihm gleich zu tun, das Studio zu verlassen und in der freien Natur oder inmitten des wirklichen Lebens zu malen.[1] Die kritische Öffentlichkeit war darüber empört. Sie lehnte die scheinbar unvollendete und amateurhafte Ästhetik ab und musste doch nach nicht allzu langer Zeit einsehen, dass sie irrte und sich das ästhetische Bewusstsein geändert hatte. Seitdem – so die gängige Erzählung – symbolisiere der Impressionismus den Kampf gegen die Verkennung des Neuen.[2]