Erinnerungsarbeit zwischen bewegtem Bild und sprechendem Text

Über Annie Ernauxs späte filmische Autosoziobiographie Les Années Super 8

von Eva Blome

 

Die Texte Annie Ernauxs sind, nicht erst seitdem ihr 2022 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, auch im deutschsprachigen Raum bekannt. Vielmehr erfreuen sich Ernauxs Bücher in den vergangenen Jahren, seit ihrer Wiederentdeckung für den deutschsprachigen Buchmarkt, eines immensen Erfolgs. Auch innerhalb des literaturwissenschaftlichen Diskurses stoßen sie auf großes Interesse – angefangen, und es seien hier nur einige wenige der Vielzahl an literarischen Titeln Ernauxs genannt, bei ihrem literarischen Erinnerungsbild an ihren Vater, La Place / Der Platz von 1984, und ihrem Mutterbuch Une Femme / Eine Frau von 1987, über ihr wahrscheinlich meist beachtetes und mehrfach preisgekröntes Werk Les années / Die Jahre, das 2008 in Frankreich, aber erst 2017, im Rahmen der Renaissance von Ernaux, in Deutschland erschien, bis zu ihrem jüngsten literarischen Text, Le jeune homme / Der junge Mann.

 

Rot, die dominierende Farbe in den Bildern vom Weihnachtsabend 1972.
Rot, die dominierende Farbe in den Bildern vom Weihnachtsabend 1972.

Nicht zuletzt, sondern gerade vor dem Hintergrund dieser stark autobiographisch geprägten Werke – die in Deutschland in den frühen 1980er Jahren bei ihrer Erstpublikation im Bertelsmann Verlag übrigens, was heute kaum mehr vorstellbar ist, im Segment der ‚seichten‘ Frauenliteratur und mit entsprechenden Titeln und Aufmachung erschienen – dürften viele auf Ernauxs ersten Film Les Années Super 8, der im vergangenen Jahr seine Premiere bei den Filmfestspielen in Cannes hatte, neugierig sein. Erstaunlicherweise war er aber in deutschen Kinos, Filmreihen oder Festivals, nach kurzweiliger Aufnahme in die Arte-Mediathek, bisher kaum zu sehen. Das ist vor allem deswegen unverständlich, weil Les Années Super 8 viel über Ernaux erzählt: wie sie zu Beginn der 1970er Jahre ihre Arbeit als Schriftstellerin aufnahm, als auch über sie als berühmte Autorin der Gegenwart. Besonders ist dabei, wie die Vergangenheit und Gegenwart der Künstlerin aufeinandertreffen und dadurch neue und intime Einblicke in ihr Leben entstehen.

 

Reflexionen einer schreibenden Klassenübergängerin

 

Der Film ist eine gemeinsame Produktion von Annie Ernaux und ihrem Sohn David Ernaux-Briot; vordergründig dem Genre der Dokumentation zurechenbar präsentiert Les Années Super 8 Aufnahmen im Super-Acht-Format, einem seit Mitte der 1960er Jahre existierenden Schmalfilm-Format, das vorwiegend und auch in diesem Fall verwendet wurde, um Szenen des privaten und familiären Kontexts in bewegten Bildern einzufangen. Les Années Super 8 verwendet Aufnahmen, die ganz überwiegend von Ernauxs damaligen Ehemann Philippe in den Jahren zwischen 1972 und 1981 gefilmt wurden. Die Filmsequenzen, die das häusliche Zusammenleben ebenso wie die zahlreichen Reisen der Familie und des Ehepaars ins Bild setzen, wurden für Les Années Super 8 allerdings neu editiert und mit einem eingesprochenen Kommentar der Autorin aus der heutigen Perspektive unterlegt und verschränkt. Integriert sind in diesen Text unter anderem einige Tagebucheinträge, die der Kommentar der Zeit der Entstehung der Filmaufnahmen zurechnet.

 

Was die Aufnahmen betrifft, wurde also kein neues Filmmaterial produziert, sondern auf bereits bestehendes Material zurückgegriffen, das ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Die Vergangenheit tritt den Zuschauenden in Form von scheinbar authentischen Aufnahmen entgegen – zu sehen sind die junge Mutter Annie Ernaux, ihre beiden Söhne und auch ihre eigene Mutter, die mit der Familie in einem Haushalt lebt. Ein Verfahren, dass aus den literarischen Werken Ernauxs vertraut ist, in denen ebenfalls häufig quasi faktisches Material, insbesondere Fotografien von Familienmitgliedern, in die Darstellung einbezogen werden. Die Bilder erfahren dabei aber eine Verfremdung und Neu-Kontextualisierung – so werden in Les Années Super 8 einige der gefilmten Szenen rückwärts oder verlangsamt abgespielt, mit Musik und Geräuschen unterlegt oder durch eingeblendete Fotos unterbrochen.

 

Erzählt Ernaux in ihren literarischen Werken oftmals, nachgerade exzessiv, von ihrem Klassenübergang, von ihrem Weg als Kind aus einem Arbeiterhaushalt, deren Eltern in ihren mittleren Jahren dann einen kleinen Krämerladen samt Café betrieben, zur aufstrebenden und schließlich erfolgreichen Autorin, so ist die Klassenthematik auch diesem Film inhärent – und zwar nicht nur auf der Ebene der Bilder, sondern bereits auch in Bezug auf seine Materialität: Denn Super-8-Kameras und ihr Zubehör waren teuer. Mit diesem Material im familiären Kontext zu arbeiten, zu filmen und die Filme wiederum mit der Familie und mit Freunden betrachten zu können, war daher: eine Mittel- und Oberschichtsangelegenheit. Das heißt, was zu sehen ist, trägt eindeutig auch eine ökonomische Signatur, einen sozialen Index, der darauf verweist, dass sich die junge Annie Ernaux qua des Bildungswegs, den sie eingeschlagen hat, Besuch des Gymnasiums und Ausbildung zur Lehrerin, bereits ein deutliches Stück weit von ihrem Herkunftsmilieu entfernt hat. Gerade deshalb ist womöglich ihre Mutter, die aus der vergangenen Zeit der Kindheit Ernauxs in die Gegenwart der Aufnahmen hineinragt, eine der interessantesten Figuren des Films. Habituell vom neuen Milieu ihrer Tochter getrennt und doch Teil des drei Generationen umfassenden Wohnarrangements, steht sie für die Herkunftswelt Annie Ernauxs und markiert den Ausgangspunkt von deren sozialer Transgression.

 

Die Erinnerung an die in den Super-8-Aufnahmen eingefangene Vergangenheit in der Gegenwart, also im Jetzt der Konfrontation mit den ‚alten‘ Bildern, wird im Film durch die Tonspur repräsentiert. Diese liefert die kulturellen Kontexte und politischen Zusammenhänge, benennt und kommentiert zeithistorische Ereignisse ebenso wie diejenigen Lieder, Bücher und Filme, die Annie Ernaux (oder ihren Angehörigen) damals wichtig waren.

 

Während die Bilder vermeintlich eine Rückkehr in eine vergangene Welt und in eine spezifische familiär-soziale Realität leisten, offenbart der mündliche Kommentar, der von Annie Ernaux selbst gesprochen wird, deren trügerische Seiten. So sagt die weibliche Stimme im Voiceover (– zitiert werden hier die Worte aus der deutschen Synchronfassung, in der die Schauspielerin Eva Matthes anstelle von Ernaux zu hören ist):

 

„Ich kann nicht umhin, mich zu erinnern, dass sich hinter diesen Bildern einer jungen Mutter mit glatter Haut eine gepeinigte Frau verbirgt – insgeheim getrieben von der Notwendigkeit zu schreiben. In meinem Tagebuch hatte ich damals notiert, ich müsste alles, was in meinem Leben passiert zu einem furiosen Roman vereinen – ganz in Rot.“

 

Die Bilder, die zeitgleich zu sehen sind, warten an dieser Stelle dann, als griffen sie die Worte Ernauxs auf und nicht umgekehrt, mit besonders viel Rot auf. Vor allem in der Kleidung der Kinder, Kostüme, die sie zu Weihnachten geschenkt bekommen haben, ist die Farbe auffällig. Auf diese Art und Weise verschmelzen die vordergründigen Bilder eines typischen Familienlebens mit dem Begehren, das hinter diesen liegt: dem Bedürfnis der jungen Ernaux, einen Roman zu schreiben. Eine Tätigkeit, der sie aber, wie wir ebenfalls erfahren, nur im Geheimen und wenn alle anderen Familienangehörigen aus dem Haus sind, nachgehen kann. So heißt es wiederum im Kommentar zu den Aufnahmen von Weihnachten 1972:

 

„All das unterlege ich heute mit einer anderen Wirklichkeit, der Wirklichkeit der unterrichtsfreien Nachmittage, an denen ich heimlich an einem Roman schreibe, der davon handelt, wie mich Studium und Bildung von dem Arbeitermilieu entfremdet haben, in dem ich aufgewachsen bin, heimlich, weil ich mit meinem Mann darüber nicht reden kann, erst recht nicht mit meiner Mutter, beide sind Figuren meines Romans, ganz unverschlüsselt, denn sie verkörpern die wichtigsten Stationen meines sozialen Aufstiegs – Herkunft und Ankunft.“

 

Die Aufnahmen von einer Bildungsreise nach Chile, die der Auseinandersetzung mit der Sozialpolitik Salvador Allendes galt, geben dann Anlass, das Versprechen zu erinnern, das die junge Ernaux sich bereits im Alter von zwanzig Jahren gegeben hatte (und das sie auch zu Beginn ihrer Rede zum Nobelpreis wieder aufgegriffen hat): „Ich werde schreiben, um meine Klasse zu rächen.“ [im Original: „pour venger ma race“]

 

Montage und Zeitdiagnose

Angesichts dieses Diktums und Ernauxs expliziter Ambition, auto-sozio-biographisch zu erzählen, also dem Anspruch, die narrative Darstellung des eigenen Lebens mit der Analyse sozialhistorischer und gesellschaftlicher Problemlagen zu verbinden, – stellt sich für dieses filmische Beispiel sicherlich weniger die Frage nach dem Autobiographischen als nach dem Soziologischen. Denn: Les Années Super 8 erzählt eben nicht nur von den Oberflächen eines Familienlebens im bürgerlich-linken Milieu der 1970er Jahre. Vielmehr wirft der Film die Frage auf, wie in der Montage von Bild und Kommentar ein gesellschaftsanalytischer oder gar -kritischer Impuls genau zum Tragen kommt. Worauf zielt dieser? Was leistet dieser eindrückliche Film also auch als Zeit- und Gesellschaftsbild – und wie macht er dies?

"In meinem Tagebuch hatte ich damals notiert, ich müsste alles, was in meinem Leben passiert zu einem furiosen Roman vereinen - ganz in Rot." – Annie Ernaux
"In meinem Tagebuch hatte ich damals notiert, ich müsste alles, was in meinem Leben passiert zu einem furiosen Roman vereinen - ganz in Rot." – Annie Ernaux

 

Deutlich ist, dass der Film die Aufnahmen Philippe Ernauxs, mit den erinnerten Gedankenwelten der Ehefrau kontrastiert, die in diesen Bildern ursprünglich nur als stummes Objekt vorkommt: Zwar spricht Annie Ernaux natürlich in den gefilmten Familienmomenten; zu hören ist dies jedoch nicht, denn das ursprüngliche Super-8-Filmmaterial transportiert keinen Ton. Diese Art der Stummheit liegt also in der spezifischen technischen Verfasstheit der Aufnahmen begründet. Die sich in der neu montierten Tonspur abbildende weibliche Sichtweise ist hingegen eine, die im Sinne einer „Ethnologie des eigenen Selbst“, einer, man könnte auch sagen, Autoethnographie, also der Erkundung des Eigenen als Fremdes, von der Sozialisation zur Autorin unter erschwerten individuellen und spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen und unter Maßgabe eines politischen Einsatzes des zukünftigen Schreibens erzählt.

 

Auch das Zerbrechen der Ehe und der Familie wird dabei nicht, wie der Kommentar offenbart, in den Bildern selbst sichtbar, sondern in dem, was diese gerade nicht zeigen: etwa wenn die Aufnahmen zunehmend nicht mehr die sich entfremdenden Familienmitglieder, sondern Landschaften und Sehenswürdigkeiten ins Bild rücken. Die Bezugnahme auf ein Kollektiv – auf die eigenen Leute und die soziale Zugehörigkeit – erfolgt auf quasi apodiktische Weise, ist aber zugleich als eine Art Herkunftsgeschichte sowohl der ersten Romane der Autorin, von Les armoires vides von 1974 bis La femme gelée von 1981, als auch der späteren Werke Ernauxs zu verstehen. Oder will zumindest so verstanden werden – im Sinne einer Selbstdeutung des Wegs zur Schriftstellerin.

 

Wir haben es bei Les Années Super 8 also mit einer Art nachgetragenen Vorgeschichte zu tun, die von der Genese des autosoziobiographischen Schreibens Ernauxs aus der Perspektive der Autorin selbst erzählt und dieses sowohl in den familiären Kontexten einer Klassenwechslerin verortet als auch in den politischen und sozialen Zusammenhängen der 1970er Jahre. Als hätte sie es gewusst, hat Ernaux ihre langjährigen und womöglich neuen Leser:innen ausgerechnet in demjenigen Jahr, in dem sie den Literaturnobelpreis erhalten hat, mit einem Werk beschenkt, das wie ein visuell-auditiver Zusammenschnitt von Vergangenheit und Gegenwart funktioniert und Ursprünge sowie Produktionsumstände ihrer literarischen Texte als Szenographie eines Anfangs buchstäblich vor Augen stellt. Es ist zu wünschen, dass der Film noch häufiger in der Öffentlichkeit zu sehen sein wird, um dieses in medialer Hinsicht neue Erzählen Ernauxs und damit eine vielschichtige Ergänzung ihrer bisherigen Werke sichtbar werden zu lassen.


Dieser Text beruht auf einer Einführung zur Projektion von Les Années Super 8, die im Hamburger Warburg-Haus im Rahmen des Programms zum Schwerpunktthema 2023 »Dynamiken der Form« in Kooperation mit »Flexibles Flimmern – Das mobile Kino« und der Produktionsfirma Les Films Pelléas, Paris, im April 2023 stattfand.

 

Wir danken der Produktionsfirma Les Films Pelléas Bilder aus Les Années Super 8 zur Illustration des Textes nutzen zu dürfen.