Im neuen Film „Rheingold“ erzählt Fatih Akin die Geschichte des Rappers Xatar. Eine Rezension.
von Paul Weinheimer
Bonn 2012. Mit leuchtenden Augen standen wir auf dem Schulhof beisammen. Der Asphalt reflektierte die Hitze. Vor uns der Mitschüler, der zehn verpackte CDs zur Hälfte des Ladenpreises im Angebot hatte. 2012 sollte nicht nur unser letztes Schuljahr werden, es war auch das Erscheinungsjahr des neuen Xatar-Albums 415. Xatar, ein Bonner Straßenrapper, der wegen eines verurteilten Goldraubs im Gefängnis saß, hatte das besagte Album während seiner Haftzeit aufgenommen. Als Titel wählte er passenderweise seine Gefangenennummer 415. Die CD zum halben Preis, das war ein guter Deal. Peinliche Nachfragen verkniffen wir uns, denn irgendwie wollte man ja auch „Straße sein“. Ein finster dreinblickender Xatar starrte uns jetzt von dem frisch erworbenen Album an. Tätererkennungsbilder, Fingerabdrücke und das verhängte Strafmaß zierten das Cover. Das Album sah aus wie eine Strafakte.
„Krass ehy, 8 Jahre sitzt der im Knast“ – „Naja der kommt bei guter Führung halt schnell wieder raus“ – „Woher weißt du das?“. Natürlich konnte ich das nicht wissen, das war eher so ein Gefühl. Überhaupt war da so ein Gefühl – euphorisiert vom Gangsterleben erzählten wir uns wieder und wieder die kleinen Mythen, die um den Fall Xatar rankten. Da hieß es dann, er sei von der Polizei gefoltert worden. Oder aber, dass Xatar das abgezogene Gold seines Raubzugs „smart“ versteckt habe und jetzt „safe“ reich sei.
Ebendiese Schulhof-Story hat es nun unter dem Titel Rheingold in die Kinos geschafft. Erzählt wird sie vom Hamburger Regisseur Fatih Akin. Akin ist im Zuge seiner Karriere mit verschiedenen Filmpreisen gekürt worden und gilt als einflussreicher Regisseur, Produzent und Drehbuchautor. Er bekam unter anderem den deutschen und europäischen Filmpreis für den Spielfilm Gegen die Wand (2004). Sein jüngstes Werk war der Goldene Handschuh (2019), bei dem er aufbauend auf dem gleichnamigen Roman von Heinz Strunk, die Geschichte von Fritz Honka einem Hamburger Frauenmörder erzählt.
Rheingold startet mit einer kurzen Szene, in der die spätere Verhaftung des Bonner Rappers gezeigt wird und springt dann zurück zu seiner Geburt. Von hier an wird die Geschichte chronologisch erzählt. Giwar Hajabi, der sich später Xatar nennt, wird 1981 in einer iranischen Provinz geboren. Als Teil einer kurdischen Minderheit sieht sich seine Familie politischer Verfolgung ausgesetzt. Die Flucht in den Irak endet mit der Gefangenschaft von Giwar und seinen Eltern. Die Szenen sind von erschütternder Gewalt geprägt, die dem Zuschauer die prekäre Situation der Hajabis vor Augen führt. Durch die politischen Beziehungen des Vaters, ein bekannter iranischer Komponist, wird die Familie entlassen und reist mit Hilfe des Roten Kreuzes nach Deutschland. In Bonn soll der Neustart gelingen. Gegen die Bedrohlichkeit der fernen Heimat wirkt selbst die Plattenhaussiedlung der Bonner Peripherie wie ein Zufluchtsort. Giwar, der im Jugendalter von Ilyes Raoul gespielt wird, sieht sich hier im Spannungsverhältnis zweier Welten: Auf der einen Seite seine Eltern, die hart arbeiten, um ihm den Klavierunterricht zu finanzieren und auf der anderen das Leben im Block, was mit dem schnellen Geld lockt. Als Giwars Vater die Familie für eine andere Frau verlässt verändert sich sein Leben rasant. Nun scheint er der neue Mann im Haus zu sein, verkauft Pornos und später Drogen, um seine Mutter und seine jüngere Schwester mit Geld zu unterstützen. Schon hier deutet sich das Narrativ an, welches sich durch den gesamten Film zieht: Egal wie schwierig die Herausforderungen, alles ist zu schaffen, man muss nur hart genug dafür arbeiten.
Das Gangsterleben zollt jedoch schnell seinen Tribut und endet vorerst in einer Schlägerei bei der Giwar ziemlich einstecken muss. Er fängt an zu trainieren. Einige Zeit vergeht, das Training ist herausfordernd, aber Giwar bleibt dran und besiegt schließlich seinen eigenen Trainer. Der raunt daraufhin die magischen Worte: „Jetzt bist du Xatar geworden“, was im Kurdischen die Bezeichnung für Gefahr ist. Wieder hatte Giwar es durch harte Arbeit geschafft, war diesmal sogar ein anderer geworden: von hier an nennt er sich Xatar.
Xatar beginnt einen Rachefeldzug und sucht seine alten Peiniger aus dem Viertel auf, von denen er zusammengeschlagen wurde. Einige brutale Kampfszenen später sitzt er selbstzufrieden auf einer Treppe und zieht sich das Stück eines Zahns aus seiner blutüberströmten Hand und grinst. Es ist der Anfang seiner professionellen Karriere als Krimineller, die in verschiedenen Anzeigen und dem Jugendstrafvollzug endet.
Nachdem ein Haftbefehl gegen Xatar vorliegt (der mittlerweile älter ist und fortan von Emilio Sakraya gespielt wird), verbindet er das Praktische mit dem Nötigen und flüchtet nach Holland, um dort am Conservatorium van Amsterdam Musikmanagement zu studieren, sein Traum: ein eigenes Label. Das Studium wird jedoch schnell zur Nebensache. Sein frisch geknüpfter Kontakt zu „Onkel Yero“, der so wirkt wie der Pate von Amsterdam, ist interessanter. Mit einer größeren Menge Kokain, ausgelegt vom Onkel, geht es zurück nach Bonn: Stoff verkaufen. Nun läuft jedoch alles schief und Xatar und sein Freund sitzen auf einem Berg von Schulden, bei einem Mann, der wenig Spaß versteht.
Getrieben von Panik muss also ein Coup her, der möglichst schnell viel Geld einbringt. Das Objekt der Begierde ist ein Goldtransporter, um genau zu sein, ein Zahngoldtransporter. In einer sophistischen Meisterleistung erbeutet Xatar mit drei Freunden Gold im dreistelligen Kilobereich. Der Raub ist gezeichnet von einem sympathischen Gaunertum, kommt also ohne Gewalt und dafür mit viel Witz aus. Auch wenn die Schulden bei Onkel Yero nun der Vergangenheit angehören, holt ihn der Raubzug schnell wieder ein. Es wird nach ihnen gefahndet. Vor der Flucht verabschiedet sich Xatar noch schnell bei seiner Jugendliebe, um dann alles hinter sich zu lassen. Die Flucht endet im Irak. Gezeichnet von den katastrophalen Zuständen und Folter reist Xatar im Gefangenentransport zurück nach Deutschland. Dort wird Xatar zu acht Jahren Haft verurteilt.
Was wie der Tiefpunkt seines bisherigen Lebens scheint, entpuppt sich jedoch als der Beginn seiner Musikkarriere. Hier zeigt sich, egal mit welchen Problemen sich der Protagonist konfrontiert sieht, am Ende wird alles zu einer goldenen Chance. Mithilfe eines reingeschmuggelten Aufnahmegeräts nimmt er, schallisoliert durch seine Bettdecke, Songs auf, die draußen von Freunden zu einem Album verarbeitet werden. Es ist die Geburtsstunde von 415, seiner ersten eigenen Platte.
Am Ende des Films sieht man Xatar mit seiner alten Jugendliebe in einer Villa am Rhein. Er ist nun erfolgreicher Musikproduzent und Musiker. Das Einzige, was diese Idylle stört, ist die Frage seiner Tochter, ob er ein Räuber sei, die anderen Kinder in der Schule hätten das gesagt. Xatar schaut sie liebevoll an und gibt sich geläutert, all das würde hinter ihm liegen. Sie stellt daraufhin die Frage, die dem echten Giwar Hajabi aka Xatar schon oft gestellt wurde: wo denn das Gold nun sei. Er flüstert ihr etwas ins Ohr und die Kamera macht einen Schwenk raus aus dem Haus und runter in den Rhein, wo sich eine Unterwasserlandschaft auftut und animierte Wassernixen das auf dem Grunde liegende Gold bewachen – zusammen mit dem Titel eine Anspielung an Richard Wagners Operntetralogie Der Ring des Nibelungen (1867), bei der das Rheingold, welches Allmacht verspricht, von den Rheintöchtern beschützt wird.
Rheingold trägt die Handschrift von Fatih Akin. Ähnlich wie man es auch aus der Goldene Handschuh (2019) kennt, schafft er es mit einem besonderen Sinn für Komik eine ernste Geschichte mit Humor zu erzählen. Die musikalische Untermalung versetzt einen zurück in die Zeit der sogenannten „Kopfnicker-Beats“. Das Album 415 war nämlich nicht nur ein großer Erfolg, sondern auch der Beginn einer neuen Ära des deutschen Raps, was der Film zu transportieren weiß.
Hauptsächlich funktioniert Rheingold jedoch über authentische biografische Bezüge. Und ironischerweise hat man hier oftmals den Eindruck, dass Xatars außergewöhnliche Biografie allzu bruchlos verläuft. Emilio Sakraya, der den erwachsenen Xatar spielt, verkörpert eine Mischung aus willensstarker Unverfrorenheit und weichem Kern. Doch die übermäßige Betonung von Willensstärke, das auf- und abgebetete Mantra des Zähne-zusammen-beißens überzeugt nicht. Der Film wirkt bisweilen wie die Karikatur eines German Dream. Mit harter Arbeit und Willenskraft ist alles möglich. Wenn man den Glauben an seinen Traum nicht aufgibt, zahlt sich das am Ende aus – so die Message. Ob sich dieses Narrativ für die Erzählung einer migrantischen Erfolgsgeschichte eignet, ob es der German Reality gerecht wird, daran wäre doch zumindest zu zweifeln. Im Fall von Xatar ist das durch seine Eltern mitgebrachte kulturelle Kapital (die Mutter Lehrerin, der Vater Komponist und Musikprofessor) von nicht unerheblicher Relevanz. Das Spannungsverhältnis zwischen seinem kulturellen Hintergrund, Erfahrungen von Marginalisierung und seinem Leben im Block wird im Film jedoch nur oberflächlich thematisiert. Dabei wäre gerade dieses interessant, um die Figur Xatar besser zu verstehen. Stattdessen wird das Gangsterleben als ein aufregendes Abenteuer dargestellt. Um dem Urteil der deutschen Mehrheitsgesellschaft gerecht zu werden, wird außerdem versucht Xatar mit bürgerlichen Werten auszustatten. Damit dies gelingt, muss er Leistung und Erfolg verkörpern. Darüber hinaus gibt es dann im Grunde nur noch eine einzige Voraussetzung: die Wahrung der moralischen Integrität des Protagonisten. Und eben hierauf ist der Film penibel bedacht. So zeigt er zwar offen die rohe Gewalt der Straße, doch diese Szenen sorgen nicht für Entsetzen, sondern wegen eines durchwegs humoristischen Framings für Lacher. Lässige Sprüche, harte Schläge und eine Gentlemen-Attitüde à la James Bond lassen die Gewalt fast vergessen. Was bleibt, ist das Bild eines liebevollen Sohns (der die Mutter versucht zu unterstützen), eines protektiven Bruders (der die Schwester versucht zu beschützen) und eines romantischen Liebhabers (der hartnäckig um seine Jugendliebe kämpft und dabei seine emotionale Stärke unter Beweis stellt).
Misogynie im Deutschrap? Auch diese Kritik inkorporiert der Film und legt die schützende Hand über seinen Protagonisten. So erscheint Xatar, während er im Gefängnis seine Songtexte schreibt, die Vision seiner eigenen Mutter, die ihn durch tadelnden Finger den Radiergummi zücken lässt, um eine frauenfeindliche Textstelle zu streichen. Dass Xatar aus den USA fliehen musste, da ihm vorgeworfen wurde, einer Frau die Nase gebrochen zu haben, wird im Film nicht thematisiert. Auf seinem Album heißt es dazu nur: „Ich habe sie geknockt, denn sie war zu hässlich“. Später sagt er in einem Interview, der Schlag sei „nur ein Reflex“ gewesen. Die Szene im Film wirkt damit wie ein Euphemismus. Wirklich dunkle Seiten der Figur Xatar bleibt der auf Authentizität setzende Film dem Publikum somit schuldig.
Für mein siebzehnjähriges Ich wäre die Heldenerzählung von Xatar die perfekte Erweiterung der Schulhof-Story gewesen. Heute – mit der Distanz von zehn Jahren – fasziniert mich die Biografie eines Xatar immer noch. Gerade die Gegensätze und Spannungsfelder, in denen Rap entsteht, sind für mich das, was die Musik und ihre Interpreten interessant macht. Leider fehlt Rheingold ein Gefühl für diese Widersprüchlichkeiten. Stattdessen erzählt der Film eine Erfolgsgeschichte, die niemanden vor den Kopf stoßen will.