Betrachtungen zur Geburt von Jesus Christus

von Art W. Groll

 

Es ist wieder Weihnachten. Das merke ich daran, dass ich erschöpfend viel Zeit noch schnell bei Amazon verbringe und sich lange angespannte Schlangen vor den Kassen scharen. Konzentrierte Augen gleiten über die himmlischen %e und ekstatische Mengen schieben sich durch die Regale voller fröhlicher Reklame. Es ist kein ausgelassener Rausch, es ist kalt und die Stimmung ist ernst. Es geht um etwas. Wir feiern die Geburt des kleinen Christuskindes in seiner lieben Holzkrippe, die Geburt des Heilands, geboren von der Jungfrau Maria und seinem Adoptivvater Josef. 

Hans Schäufelein, Die Geburt Christi, ca. 1508. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford
Hans Schäufelein, Die Geburt Christi, ca. 1508. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford

Was ist diese tote kleine Puppe in der Krippe, die alljährlich bildlich, in effigie zum Leben erwacht und all die Menschen in den Kaufrausch treibt? Wer ist dieser arme, schutzlose, ausgelieferte Heiland, der geboren wird? Was an Weihnachten passiert, weiß jedes Kind. Was wir an Weihnachten vergessen, ist, wie die Geschichte endet.

 

Eines Tages werden wir das kleine Christuskind an den Ärmchen nehmen, um zwischen Elle und Speiche einen rostigen Nagel zu rammen. Wir werden seinen Leib an ein schweres Kreuz hängen, welches wir das Kindchen selbst den Berg hinauftragen lassen. Wir werden das Kind am Kreuz aufgenagelt hängen lassen, bis es qualvoll verblutet und vor Schmerzen am eigenen Körpergewicht dahingerafft ist.

 

Ich sage: Wir. Denn wir – das sind immer die, die das Spektakel überlebt haben. Wir, das sind die, die im Chor angefeuert haben. Wir, dass sind die, die weggeschaut haben. Wir, dass sind die, die sich aus dem Staub gemacht haben. Wir, das sind die, die vergessen, dass wir es sind.

 

Warum musste Jesus Christus sterben? Folgen wir dem französischen Anthropologen und Philosophen René Girard bezeugen die vier „Evangelien“ zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Hinrichtung eines Opfers aus der Perspektive des Opfers selbst. Nicht wir, die wir überlebt haben beschreiben die Schuldhaftigkeit, des Opfers – wie sonst. Nicht wir beschreiben, warum es notwendig war, dass Christus stirbt, sondern die Evangelisten bezeugen, die „frohe“ Botschaft, das Christus, das Lamm, unschuldig ist. So unschuldig wie man kaum sein kann. Man könnte sagen, die Weihnachtsgeschichte ist vor allem die Vorgeschichte der Passion, die uns die Unschuld Jesu verdeutlicht. Und Jesus selbst, das Opfer persönlich, hat Einsicht in die Notwendigkeit seiner Hinrichtung. Das kindliche Lamm auf dem Weg zum Altar, dem Schlachttisch, scheint zu wissen, dass es sterben muss, auch wenn es unschuldig ist. Es scheint um die Notwendigkeit seines Todes, zum Wohle aller zu wissen, und insoweit um die eigene Schuld in der Unschuld.‍[1]

 

Wir haben uns seit jeher immer schon schuldig gemacht. Wir sind geworfen in die Schuld. Das kleine Jesuskind wird geboren und muss sterben. Es wird unschuldig geboren und doch führt es eine Schuld mit sich, die älter und jünger zugleich ist. Sie ist älter, weil wir bei dem Gedenken an seine Geburt wissen, dass Jesus sterben muss. Und sie ist jünger, da sie noch den Aufschub bis zur Passion erlaubt.

 

Die Urszene dieser primordialen Schuld fand bekanntlich im Garten Eden statt. Der alttestamentarische Tiermensch Adam‍[2] fraß von der Frucht der Erkenntnis und machte sich und uns damit auf immer von Kind an menschlich-schuldig. Diese Schuld tragen wir in Form des Logos, der Möglichkeit zu Erkenntnis immer mit uns herum. Denn jede Erkenntnis hat ein Opfer, hat etwas, das sie ausschließt. Das Ausschließende der Erkenntnis ist tiefer als diese selbst. Das Ausschließende steckt in der Sprache, dem Denken, der ersten Differenz, dem Logos.

 

Jesus wird an ein Kreuz genagelt. An ein althebräisches Taw‍[3], den letzten Buchstaben des althebräischen Alphabets. Genagelt an den hölzernen letzten Buchstaben, an das Zeichen an und für sich, stirbt Jesus. Es ist kein Wort‍[4], sondern ein Bild, dass uns erlöst. Von aller Erbschuld erlöst. Der am letzten Buchstaben verblutende Jesus Christus ist unsere Erlösung von der Schrift, der Sprache, dem Denken, der Erkenntnis. Nicht der Mensch ist Gott geworden, sondern Gott ist Mensch geworden. Diese lebendige Paradoxie entzieht sich dem Logos. Und die Geburt Jesu trägt eben diese Paradoxie in sich: ein unschuldiges Opfer wird geboren. Zwischen Unschuld und Schuld öffnet sich ein Abstand, indem das Leben einen Aufschub geschenkt bekommt und sich vom Logos trennt.

 

Dieser Aufschub zwischen Geburt und Tod soll uns vielleicht etwas Entscheidendes sagen, ohne es zu sagen. Vielleicht bedeutet er: Hört auf zu Lesen, hört auf zu Schreiben. Schreibt mit den Augen, in dem ihr hinseht. Schreibt mit den Ohren, in dem ihr zuhört. Schreibt mit den Armen, in dem ihr in den Arm nehmt. Schreibt euch mit dem Leib ein in die Welt, indem ihr da seid für die Opfer.

 

Wir feiern wie jedes Jahr an Weihnachten die Geburt Jesu Christi. Vielleicht feiern wir dabei die Melancholie eines unschuldig-schuldigen Lebens, denke ich, während ich durch Amazon scrolle.


Fußnoten

  1. Wie verlockend (und wie naiv umständlich konstruiert) ist die Annahme Judas sei schuld an dem Tod Jesu, er habe ihn schließlich „verraten“. Nicht wir seien schuld, sondern Judas der Verräter. Es ist der alte Sündenbockmechanismus, der sich in Judas reproduziert, den gerade Jesu aufzuheben sucht. Judas ist gewissermaßen der Sündenbock des enthüllten Sündenbockmechanismus.
  2. Adam ist altheb. der Mensch. Beginnend mit Aleph (𐤀), das Tier, erster Buchstabe im althebräischen Alphabet. Das A ist quasi ein auf den Kopf gedrehter Stierkopf.
  3. Altheb. Taw (𐤕) bedeutet Zeichen, das Kreuz ist also ein Zeichen für ein Zeichen.
  4. Das „im Anfang“ war.

Literatur

Deleuze, Gilles: Proust und die Zeichen. Berlin: Merve 1993.

Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt am Main: Fischer 2009.

Girard, René: Das Ende der Gewalt. Freiburg im Breisgau: Herder 2009.

 

Danke an Clemens Zentek und Fabian Endemann für die guten Gespräche und Impulse.