Über Lucas Guadagninos neuen Film Bones and All und den Doppelcharakter der Entfremdung
von Marie-Louise Bartsch
Es gibt Filme, die uns mit Coming-of-Age-Stories liebevoll an unser eigenes Erwachsen-Werden erinnern und es gibt solche, die uns in gut verdrängte Jugend zurückwerfen. So reaktivierte die Horror-Romanze Bones and All ungewollt mein 15-jähriges, in provinzieller Einöde sozialisiertes Ich: Kannibalismus im Film erinnert mich an eine Zeit, in der Horrorfilme notwendigerweise das Wochenend-Highlight waren. Denn gerade noch zu jung, um mit Muttizettel das Ticket für die Kleinstadt-Disco einzufahren, war man doch alt genug, um in der 16+ Abteilung der dorfeigenen Videothek ein sattes Paket an Horror, Splash und Co. einzuholen.
Der Flatscreen damals noch in weiter Ferne, dafür flache Handlungen in klapprigen Hüllen, bereit, in den Panasonic-DVD-Player eingefahren zu werden. Zwischen Kiefernholzmöbeln und orangefarbener Wohnzimmer-Ästhetik warteten wir dann auf die maximale Portion Grusel, und das bedeutete eben oft: Kannibalismus.
Mit ein paar Jahren Abstand und dem neuen Film von Luca Guadagnino gelingt jedoch eine Refokussierung auf dieses horrortypische Erzählinstrument. In Bones and All rückt nämlich die romantische Geschichte zweier sich verliebender Menschenesser in den Mittelpunkt. Behutsam löst Guadagnino so die symbolische Gleichsetzung von Kannibalismus und Grusel auf.
Wir steigen ein. Die Leinwand ist in Sepia gelegt, Reagan regiert Amerika, wir wissen: Wir sind in den 80ern. Die braungetönten Bilder drücken sachte auf die sommerliche Leichtigkeit. Über den Schulhof führt die Kamera durch uniformtragende Highschoolkids zu Maren, die gerade eine Einladung zur Pyjama-Party ihrer Mitschülerinnen erhält. Weil ihr Ausgehen von ihrem Vater aber streng untersagt wurde, bleibt ihr nichts, als sich im Dunkel herauszuschleichen. Entlang der Stromtrasse findet sie den Weg zum Sleep Over sicher. Dort angekommen warten zwar keine DVDs, weil achtziger, dafür weite Pyjama-Hosen und Spaghetti-Tops, gedimmtes Licht und Nail Polish. Die bis hier schnell erzählte Handlung nimmt sich jetzt zurück: Während sich gegenseitig Nägel lackiert werden, werden die Gespräche tiefsinniger. Maren erzählt von ihrer Mutter, die sie und ihren Vater früh verlassen hat. Blicke werden langsamer, Körper kommen sich näher. Die sorgfältig erzählte Intimität zwischen den Mädchen umschließt den gesamten Saal. Die Stimmung bricht jedoch abrupt, wenn Maren in den Finger ihrer neuen Freundin beißt. Genüsslich, fast gierig, frisst sie den Finger. Als ihr ihre Tat bewusst wird, flieht sie schockversetzt. Blutverschmiert steht sie im Wohnzimmer. Ihr Vater, offensichtlich mehr wissend als sie, fordert Maren auf, die Sachen zu packen, um gemeinsam die Stadt zu verlassen. Ein neuer Tag. Wenn die Kamera durch einen spärlich eingeräumten Bungalow fährt, wird die Handlung wieder langsam. Durch abgetragene Vorhänge legt sich seichtes Sonnenlicht in den Raum, in dem wir Maren finden. Ruhig geht sie durch die Zimmer, als sie bemerkt, dass ihr Vater nicht mehr zu Hause ist. Dafür findet sie eine Kassette, gleich daneben einen Walkman, bereit, ihr ihre eigene Geschichte zu erzählen. Mit dem Band des Vaters und der Geburtsurkunde ihrer Mutter in der Tasche verlässt Maren den Ort, der niemals ihr zu Hause war und macht sich auf die Suche nach sich selbst.
Moral in der Entfremdung
Auf ihrer Reise erfährt Maren schnell, dass sie mit ihrem Hunger auf Menschenfleisch nicht allein ist. Von Sully, einem skurrilen älteren Herrn, lernt sie die Basics: Menschen wie Maren und er bezeichnen sich als Eater. Sie alle eint ein beständiges Verlangen nach Menschenfleisch, das, wie Maren verzweifelt lernen muss, nicht zu unterbinden ist, doch aber zu kontrollieren. So folgen Eater dem gesellschaftlichen Leitcode: „An Eater never eats an Eater“. Um zu essen, muss aber getötet werden. Mit einer Ausnahme: Eater haben einen besonders gut geschulten Geruchssinn, der sie nicht nur ihresgleichen erkennen, sondern auch Sterbende orten lässt.
Wenn dann aber doch getötet werden muss, denn der Hunger geht nicht von allein, trifft die Wahl der Nahrung das moralisch besser begründbare Opfer, vulgo: Getötet wird, wer sich nicht an die Regeln hält. So wird ein Spielbudenbetreiber, der Kinder um ihr Taschengeld bringt, indem er mit unmöglichen Siegen lockt, zum Abendessen auserkoren. Nachdem das Sättigungsgefühl den Hunger gebändigt hat, findet Maren allerdings heraus, dass auf den gerade verspeisten Mann Frau und Neugeborenes warten. Und da ist es wieder, das bedrückende Gewissen.
Guadagnino entwirft moralisch hochsensible, selbstreflexive Kannibalismus-Subjekte, die ihren Trieb in einem sozial akzeptierten Rahmen zu organisieren versuchen, der sie synchron aus der Möglichkeit jeder Gemeinschaft ausschließt. Die entfremdeten Eater erleben „sich und die anderen [nämlich] so, wie man Dinge erlebt – mit den Sinnen und dem gesunden Menschenverstand, aber ohne mit ihnen und der Außenwelt in eine produktive Beziehung zu treten" (Fromm 1955: 88). Denn neben dem Hunger eint die Eater vor allem eins: Ein Leben im sozialen Rückzug. Alle der im Film gezeigten Eater haben zwischenmenschliche Beziehungen vollständig aufgegeben: Aus Angst vor der immerwährenden Gefahr, sich im Rausch an ihnen zu sättigen oder als Eater erkannt und zurückgewiesen zu werden.
Liebe als Überwindung der Entfremdung
Marens Reise setzt sich fort und sie lernt Lee kennen. Weil sie jetzt weiß, wie man Artgenossen riecht, erkennt sie ihn sofort. Zaghaft nähert sie sich dem introvertierten, etwas schroffen Lee. Sie hofft, von ihm mehr über sich zu erfahren und dabei eigentlich, nicht länger allein sein zu müssen. Lee, genauso einsam, genauso rastlos, willigt ein. Auf der Suche nach sich selbst und einem Platz, an dem sie bleiben können, konvertiert der Film zum Roadmovie. Die zu Beginn radikal gebrochene Intimität wird in der Annäherung der zwei Eater wieder voll hergestellt. In weiten Einstellungen auf amerikanische Landschaft transportieren analoge Aufnahmen tief geteilte Sehnsucht. Wir hören Your Silent Face von New Order und wissen Nähe in der Stille. Sie halten schließlich an. Zwischen seichten Hügeln und den letzten warmen Sonnenstrahlen erzählt Lee die Geschichte seines erstens Opfers – sein Vater. Still laufen Tränen über sein Gesicht. Maren nicht einmal den Blick von ihm abwendend. Im Hintergrund jetzt Depeche Mode: I Feel You.
Weil beide in der Lage sind, die moralisch hochgradig verwerflichen Taten des je anderen nachzuvollziehen, muss niemand Rückweisung fürchten. Gegenseitiges Verstehen hebt somit die konstitutionslogisch in der Entfremdung eingeschriebene Unmöglichkeit zwischenmenschlicher Beziehung auf. Es ist schließlich die Liebe, die die Regeln der Vernunft überwindet und die entfremdeten Subjekte aus ihrer Einsamkeit befreit. Denn, wie Niklas Luhmann schreibt, kann „[d]ie Vernunft [..] die Argumente der Liebe nur abwerten, als Spitzfindigkeiten, als Subtilitäten; und sie, nicht die Liebe, zieht sich letztlich in den Konflikt zurück.“ (Luhmann 1982: 121) Die Liebe eröffnet den Protagonisten eine geteilte Sinnprovinz (Schütz 1972), innerhalb derer das gesellschaftliche Wertesystem nicht richten kann. Denn Liebe, so Luhmann weiter, „fordert einen eigenen moralischen Status“ (Luhmann 1982: 123). Und sie ist auch in der Lage, ihn zu konstituieren. Das Motiv des Roadmovies wird symbolisch voll ausgeschöpft, indem die ewige Fahrt als Suche nach sich selbst im Ankommen beim anderen aufgelöst wird. So wird mit dem Ankommen beieinander das Ende der Reise gesetzt. Müde von ziellosen Fahrten träumen beide von einem normalen Leben und Lee schlägt vor: „You want to be people? Let’s be people.”
In einem Appartement in einer nicht benannten Kleinstadt richten sie ihren Alltag ein. Sie treten, mit Erich Fromm gesprochen, in eine produktive Beziehung zu ihrer Außenwelt. Allerdings nur kurzfristig: Die neue Normalität wird schon bald von der Vergangenheit eingeholt. In einem Racheakt Sullys wird Lee tödlich verletzt. Verblutend in Marens Schoß liegend fordert Lee sie auf, ihn zu essen. Und zwar bis auf die Knochen, bis in den Rausch. Mit dieser Inkorporation des anderen Körpers wird schließlich selbst der moralisch verwerflich kodierte Akt des Kannibalismus überwunden und der Synchronisation zweier sich liebender Subjekte maximaler Ausdruck verliehen.
Entkoppelung von Kannibalismus und Horror
Im klassischen Horror-Genre symbolisiert Kannibalismus das Amoralische, das Abzulehnende. Allerdings in einer Weise, dass wir uns zu fürchten haben. Kannibalen sind nicht wie wir, sondern menschgewordene Mordwaffen. Damit steht Kannibalismus hier für die Bedrohung durch die anderen, das andere, das Fremde. In dieser Instrumentalisierung des Anders-seins als Grundlage des Gruselns lauert die eigentliche Gefahr des Genres. In Bones and All steht der Kannibalismus hingegen für das Verlassensein und die Heimatlosigkeit, für die Entfremdung und das Fremdwerden des Eigenen. Statt das moralische Messer aus der Außenperspektive zu schärfen, wird die Innenperspektive auf die entfremdeten Subjekte eingenommen, um intersubjektiv erfahrbar zu machen, wie „der Betreffende sich selbst als einen Fremden erlebt“ (Fromm 1955: 88). Und wo die Praktik des Essens zu Beginn sozialen Ausschluss erzählte, führt sie final zusammen und hebt geteilte Einsamkeiten auf.
Und während sich mein 15-jähriges Ich nur noch unter der Decke verkriechen wollte, um dem Grusel zu entkommen, fällt es meinem Jetzt-Ich schwer, den Körper zu bewegen und die Stimmung zu verlassen. Dem ganzen Saal geht es so. Alle sitzen ruhig, die Blicke stumm nach vorn. Der Abspann läuft aus, Stille hallt nach. Ich ziehe meinen Mantel an, verlasse den Saal und in meinem Ohr hält Nick Cave die Stimmung fest:
I have eaten the children and rained fire upon the old
Dashed the newborns dead upon the rocks
Plagued the cities, thrown families into the cold
And turned backwards all the advancing clocks
I am the mist-maker moving through the throng
A cloud of carnage everywhere I roam
Crystal piano plays the desolater's song
Have mercy on me, Lord, and bring me home
(aus: Nick Cave – Oh Lord have mercy with me)
Literatur
Fromm, Erich (1955): Wege aus einer kranken Gesellschaft, GA IV.
Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Schütz, Alfred (1971): Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten. In: Alfred Schütz (Hrsg.): Gesammelte Aufsatze I. Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag: Martinus Nijhoff, S. 237-29.
Bild
Egon Schiele creator QS:P170,Q44032 , Egon Schiele - Die Umarmung - 4438 - Österreichische Galerie Belvedere, Zuschnitt von Prothese Magazin, CC BY-SA 4.0