Über die Selbstpositionierung

von Simon Gumprecht

 

In nicht unbedeutenden Teilen der Sozialforschung, insbesondere in der qualitativen Sozialforschung, gibt es seit einigen Jahrzehnten die Konvention vor einem Forschungsvorhaben eine sogenannte „Selbstpositionierung“ zu schreiben. Hier soll der Forscher seine eigene, vor allem persönliche Perspektive auf das zu Erforschende durchsichtig machen und reflektieren. Das ist freilich ein wissenschaftliches Anliegen. Der Forschungsbericht soll die Forschung nachvollziehbar machen, und die vorausgesetzte Perspektive der Forschung selbst ist offenbar ein integraler Bestandteil dieses Anliegens.

Hamburg Facades, Fotoreihe, Prothese #1, 2016.
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Aber das gewählte Mittel der persönlichen Selbstreflektion ist doch befremdlich, und die Selbstverständlichkeit, mit der es von Forschern eingefordert wird, löst bei mir ein Unbehagen aus. Denn ist es nicht so, dass dieses Vorgehen die Rolle der Theorie stillschweigend mit der Person des Forschers auswechselt, vielleicht verwechselt?

 

Jeder Begriff von Wahrheit beruht grundsätzlich auf der Idee der Wiederholbarkeit. Offenkundig ist das bei dem Kriterium der Reproduzierbarkeit, das verlangt, dass erhobene Daten auch ein zweites Mal erhoben werden können. Es soll garantiert werden, dass die Wahrheit einen Status erhält, der sie zumindest relativ aus ihrem je spezifischen zeitlichen oder räumlichen Kontext herauslösen lässt. Es ist das Kriterium der Verallgemeinerbarkeit. Wahrheit gilt allgemein. Reproduzierbarkeit ist vor allem in den Praxen des empirischen und erklärenden Forschens und Schreibens ein zentrales Wahrheitskriterium. Aber die Vorstellung der Wiederholbarkeit ist ebenfalls das Wahrheitskriterium der theoretischen und verstehenden Arbeit. So ist etwa die Wissenschaft der Logik der Versuch, eine Metasprache zu finden, die jeder Argumentation eine zwingende Struktur geben kann. Und eine zwingende Struktur der Argumentation bedeutet nichts anderes als die Wiederholbarkeit durch jeden Argumentierenden. 

 

Wenn jede Kommunikation von Wahrheit grundsätzlich wiederholbar ist, dann kann es kein Subjekt geben, dass souverän über den Gehalt der Kommunikation verfügt. Wiederholbar heißt jenseits des Subjekts wiederholbar, jenseits von „ursprünglichen“ Intentionen und Konnotationen zitierbar. „Wahrheit sprechen“ heißt, strukturell die notwendige Möglichkeit der eigenen Abwesenheit vorauszusetzen. Wahrheit und Autorschaft stehen somit und insofern in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Autorschaft pocht auf die Möglichkeit des „Machtwortes“ des Souveräns der Bedeutung, während die Wahrheit strukturell auf der Spaltung des Subjekts der Aussage von dem Subjekt des Aussagens basiert. Das Ideal der kritischen Aufklärung kann nur verfolgt werden als Vorstellung einer Wahrheit, die für sich selbst spricht.

 

Nun ist diese Argumentation natürlich kritikwürdig. Zunächst hat das Prinzip der Autorschaft im faktisch bestehenden Betrieb der Wissenschaft eine zentrale Funktion. Trotz aller a-persönlichen Kriterien wissenschaftlicher Prozesse bleibt der Autor persistent: jede Zitation nennt ihren Autor, umso genauer, desto wissenschaftlicher. Zweitens scheinen die aufklärerischen Ideale einer Wahrheit jenseits ihrer Erscheinungen und einer Wahrheit, die durch die Avatare der Wissenschaftler sich selbst ausdrückt, gerade aus wissenschaftlicher Perspektive selbst zweifelhaft. Ob aus solchen Aporien der Aufklärung über die Aufklärung die Notwendigkeit spricht, das forschende und schreibende Subjekt in die Forschung tiefer einzuschreiben, indem man es zur simultanen Selbstbeforschung verpflichtet, ist damit aber noch nicht gesagt. Man könnte auch sagen, dass in diesem Moment der Aporie das Potenzial der Wissenschaft zur Selbstparadoxierung offenbar wird und, dass dieses Potenzial das Movens der Autopoiesis der Wissenschaft als System ist. 

 

Die Selbstpositionierung verpflichtet das forschende Subjekt über sich Rechenschaft abzulegen. Die Kritik und der Anschluss späterer wissenschaftlicher Arbeit könnte dadurch erleichtert werden. Es ließe sich also argumentieren, dass die Selbstpositionierung die autopoietische Dynamik der Wissenschaft erleichtert und daher beschleunigt, also dem „wissenschaftlichen Fortschritt“ zuträglich ist. Dabei ist dann die Selbstpositionierung der Ort der Reflexion über die Voraussetzungen der wissenschaftlichen Ratio. Was dabei zumeist nicht reflektiert wird, ist die Struktur der Reflexion selbst. Auch hier bleibt die „Metasprache“ unmöglich. Jede Kommunikation impliziert eine Metasprache, die aber selbst nie gesprochen wird. Es ist also ersichtlich, dass die Forderung nach einer Reflexion der Voraussetzungen in einen infiniten Regress führen muss. 

 

Allerdings: es ist nicht gefordert, dass alle Voraussetzungen reflektiert werden. Es ist gefordert, dass bestimmte Voraussetzungen reflektiert werden: jene Voraussetzungen, die sich in der Person des Forschenden Subjekts versammeln. Es ist nach dem Selbst gefragt. Was also ist die Reflexion des Selbst, was ist die Struktur der Reflexion, die Struktur des Selbst?

 

Die Reflexion verdoppelt. Etwas ist und wird reflektiert. Es wird zurückgeworfen. Insofern sind Selbst und Reflexion eng miteinander verbunden. Im Selbst bezeichne ich mich selbst. Dabei gilt es aber zu bedenken, dass das Selbst nicht möglich wäre, wenn es unmittelbar mit dem Selbst zusammenfallen würde. Das Ich bleibt für das Ich unerreichbar. Vor diesem Hintergrund hat das Selbst auch eine illusorische Dimension. Der Spiegel reflektiert nur, insofern er verkehrt. Und was genau fungiert wie als Spiegel in der Selbstpositionierung? 

 

Für die Soziologie stellt sich das Problem des Selbst des Forschers in zweierlei Hinsicht. Der soziologische Forscher ist immer auch Teil seines Gegenstandes. Es ließe sich leicht eine Wissenschaftstheorie erdenken, in der das für jede Wissenschaft gilt. Aber die Soziologie braucht auf eine solche Wissenschaftstheorie nicht zu warten. Für sie gilt vielmehr, dass es sehr schwer ist sich eine Soziologie zu erdenken, in der die Forschung als ein Phänomen gilt, das der Gesellschaft äußerlich ist. Die Soziologie sieht sich also in einer Situation, in der sich das Problem der Unschärferelation paradigmatisch verschärft stellt. Andererseits muss die Soziologie jede Vorstellung des Subjekts zurückweisen, insofern das Subjekt durch das Selbst definiert wird. Die Soziologie kann das Selbst nur als einen Effekt sozialer Dissemination denken, weil es kein Subjekt als selbstidentisch voraussetzen kann. Insofern gibt es kein soziologisches Konzept eines identischen Subjekts per se. Alles, was im Kontext der Soziologie Subjekt genannt werden kann, franzt aus und verliert im Verlauf der soziologischen Beobachtung seine Konturen. Für die Soziologie ist also klar, dass der Forscher das Feld verändert, so wie es für sie unklar bleibt, wer der Forscher „ist“. Vielleicht gibt es in der Gesellschaft gar keine Menschen, vielleicht nur Rollen, Signifikationen, Kommunikationen, nur Verhältnisse oder Diskurse. Vielleicht ist die Person des Forschers wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand, im Verschwinden begriffen. 

 

Ob die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen ist, ist eine Frage, die bisher nicht beantwortbar ist. Aber sie wurde oft verneint. Es gibt allerdings unzweifelhaft soziologische Begriffe des Menschen und Begriffe der Person. Es gibt die Biographieforschung, es gibt die Milieuforschung, es gibt etliche Rollentheorien. Es wäre sicherlich möglich, diesem soziologischen Bestand Kriterien zur Selbstrechenschaftsablegung zu entnehmen: Eine Biographieforschung des jemeinigen Selbst, eine Milieuforschung, eine Erhellung der Rolle des Forschers. Aber solche Überlegungen müssten selbst auch eine Perspektive einnehmen, die ihrerseits auch kontingent ist. Jede Beobachtung zweiter Ordnung ist eine Beobachtung erster Ordnung. Auch die Selbstbeobachtung hat einen blinden Fleck. Es gilt vielleicht zu vermuten, dass sich am Subjekt stets etwas findet, dass sich der Kommunikation entzieht. Was sind die Kriterien einer gelungenen Selbstpositionierung, und von welcher Position aus werden sie festgelegt? 

 

Schließlich muss eine Selbstpositionierung auch gelesen werden. Was ist der Anteil des Lesers an der Selbstpositionierung, der versteht und der vorsteht als eine Selektion vor dem Horizont anderer Möglichkeiten zu verstehen? Wenn die Selbstpositionierung auf das Selbst des Autors reduziert wird, dann muss man sie sich vorstellen als eine selbstidentische Botschaft, die versandt wird und ankommt und sich dabei nicht transformiert. Dies ist eine Vorstellung, die durch die Sozialtheorie der Kommunikation und durch die Sprachphilosophie als diskreditiert gelten muss. Auch der Leser ist an der Konstruktion der Bedeutung in der Kommunikation beteiligt, lesen ist konstruktiv. Autor und Leser ist eine Opposition, deren Dekonstruktion sehr leichtfällt. Wäre dies nicht so, gäbe es keine Hermeneutik. Gibt es eine Hermeneutik des Selbst, gibt es eine Hermeneutik des anderen Selbst? Wie würden diese Hermeneutiken begründet sein, wie könnten sie parallel bedient werden und simultan aktualisiert werden? All dies sind Fragen der Theorie und nicht der Biographie.