Wir hören alle das Gleiche

Gedanken zur westlichen Popmusik

von Art W. Groll

 

Spätestens seit in den 80er Jahren als Fuck Tha Police von N.W.A die Welle machte und bis zur gewaltsamen Auflösung von Konzerten führte, ist bekannt: Musik ist irgendwie politisch. Das fühlt man deutlich in dem Moment, in dem sich Musik der Sprache bedient. Aber auch in der zeitgenössischen Konzeptmusik steht der politische Charakter der Musik außer Frage. Johannes Kreidlers Fremdarbeit ist ein Paradebeispiel: Der Komponist kassierte eine Fördersumme ein und ließ einen chinesischen Komponisten und einen indischen Audioprogrammierer für einen Bruchteil der Summe einige Stücke komponieren mit dem Auftrag, die Stücke sollen klingen, als seien sie von ihm persönlich komponiert worden.

 

 Analoger Synthesizer in Den Haag (vgl. unten).
Analoger Synthesizer in Den Haag (vgl. unten).

Doch gibt es jenseits von Sprache und Konzept in der Musik die Möglichkeit, politisch zu sein? Gibt es eine den Tonsystemen und Klängen innewohnende Grenze, die mit der politischen Welt in Beziehung steht?

Wie die Sprache ist die Musik ein selbstreferenzielles Zeichensystem, ein System, das historisch gewachsen ist und sich in permanenter Selbstaktualisierung befindet. Doch wie die Sprache weist die Musik immer auch über sich hinaus. Pierre Schaefer brachte dieses Hinausweisen auf den Begriff des Indiz-Wertes, der Grad mit dem ein bestimmtes Geräusch auf seine Entstehung schließen lässt, sein Assoziationscharakter. So ist beispielsweise der Klang, der beim schnellen wiederholten Anschlagen eines Glases mit einem Löffel entsteht, sehr suggestiv, jeder weiß beim Hören sofort, wie er entsteht. Er hat einen hohen Indiz-Wert. Gleichzeitig assoziiert man mit dem Glas-Löffel-Klang sofort eine beginnende Tischrede, der Klang befeuert sehr dezidiert unsere Einbildungskraft. Doch nicht nur Geräusche der konkreten Musik verweisen auf außermusikalische Inhalte. Auch Tonverhältnisse, d. h. Intervalle und selbst Rhythmen verweisen uns darauf. Und seit den Ursprüngen der Musik dienten extramusikalisch vorkommende Tonverhältnisse den Komponisten wohl als Tonmaterial. Die unverkennbaren Gesänge verschiedener Vogelarten sind nur ein Beispiel dafür. Doch nicht nur die Faktizitäten von Gegebenheiten wie der Natur oder bestimmten Stofflichkeiten beeinflussen die Musik. Auch Normierungen üben Einfluss auf unsere Hörgewohnheiten: Laut der DIN 14610-Norm dürfen Polizeiwagen nur eine reine Quarte als Einsatzhorn verwenden. Man könnte sagen, daraus ergibt sich bei wiederholter Wiedergabe ein relativ klarer tonaler „Indiz-Wert“. Aber im Gegensatz zu Gangster-Rap-Konzerten von N.W.A. wird wohl niemals ein Konzert aufgelöst werden, weil ein Komponist das Martinshorn der Polizeisirenen dekonstruiert.

 

Vielleicht ist das wirklich Politische der Musik, dasjenige, was sich nicht bloß als alltägliche Hörgewohnheit unsichtbar bleibt, sondern auch ideologischen Interessen gehorcht. Wobei streng genommen wir es sind, die in Wirklichkeit „gehorchen“. Vielleicht ist das wirklich Politische der Musik etwas, das scheinbar unhinterfragt vorausgesetzt wird, dem wir ständig taub verfallen sind: das Tonsystem selbst. Unser Intervallsystem ist Ausdruck von historischen Herrschaftsverhältnissen. Als Konsumgut ist die „moderne“ Musik eingebettet in die „postmoderne“ Welt des Kapitalismus. Und diese Welt hat ein Tonsystem. Und zwar nur eines, bestehend aus zwölf gleichrangigen, „wohltemperierten“ Tönen. Alles, was dieser Ton-Norm nicht entspricht wird aussortiert. Unser Tonsystem läuft permanent auf dem Autotune unserer Hörgewohnheiten. Tonsysteme anderer Kulturen, die beispielsweise mit Viertel-, Achtel- oder Was-auch-Immer-Tönen arbeiten, werden von der westlichen Populärmusik sukzessive verdrängt. Das Gehör folgt den marktkonformen Gewohnheiten und diese werden wie die Sprache durch musikalischen „Imperialismus“ nach außen getragen. Das westliche Tonsystem läuft auch am anderen Ende der Welt auf TikTok und YouTube und beschallt und prägt Kinderohren. Deren Hörgewohnheiten werden dem globalen Markt empfänglich.

 

In der Avantgarde gibt es Gegenarbeit. Die Musik, die alte Disziplin der harmonischen Auflösung, die Musik, als selbstreferenzielles Auflösungssystem ist immer auch im Begriff, sich selbst aufzulösen. So ist in der Epoche der sogenannten „Neuen Musik“ das Tonsystem selbst längst beliebig geworden und überall werden die Grenzen dessen, was Musik ist ausgelotet. In der Avantgarde der Neuen Musik erhält sich eine sperrige Unkonsumierbarkeit. Jedenfalls solange die Komponist:innen von irgendetwas leben können.