Unendliche Vollständigkeit

Siegfried Kracauers Fototheorie und die Montagen von Andreas Gursky

von Nils Bentlage

 

Klick! In seinem Essay Fotografie beschäftigt sich Siegfried Kracauer mit der Wirkung und der Ästhetik des fotografischen Mediums. Dabei identifiziert er zwei Bestrebungen, die sich in der Fotografiegeschichte seit der Daguerreotypie – der Geburtsstunde des Fotos – bis in die Gegenwart gehalten haben: „die realistische, die in getreuen Wiedergaben der Natur gipfelt, und die formgebende, die künstlerische Schöpfungen erstrebt. [...] Fotografie ist der Schauplatz zweier Tendenzen, die einander sehr wohl widerstreiten mögen.“[1]

 

Love Parade von Andreas Gursky
Love Parade von Andreas Gursky

Fotos als Kunstspiel oder Abbild der Realität – der Düsseldorfer Fotograf Andreas Gursky[2] hat den Konflikt zwischen diesen zwei Tendenzen aufgelöst: Seine Fotos sind durchkomponierte Montagen, die sich von dem Anspruch abwenden, der „Wirklichkeit“ treu sein zu wollen – und zugleich sprühen die Bilder vor Realismus. Es sind ikonische Darstellungen der modernen Welt: Einkaufszentren, Flughafenterminals, Massenkonzerte, Großraumbüros, Fabriken, Autobahnen oder auch Orte wie die Börse prägen Gurskys Bildenzyklopädie. Entweder sind diese Räume menschenüberfüllt, ein wahres Wimmelbild, oder vollkommen leer. Aus der Nähe kann man die Bilder bis ins kleinste Detail lesen, aus der Ferne betrachtet werden sie zu einer Art Megazeichen.

 

Die realistische Tendenz ist in diesen Bildern so übersteigert, dass der Effekt einer Hyperrealität entsteht. Der Zeichentheoretiker und Schriftsteller Umberto Eco versteht darunter das „Streben nach photographisch exakter Wiedergabe der Realität“.[3] Er bezieht sich damit jedoch nicht direkt auf die Fotografie, sondern auf die Holografie – eine Lasertechnik, die eine farbfotografische Wiedergabe in drei Dimensionen ermöglicht – sowie auf Duan Hansons hyperrealistische Kunstharzplastiken, die so echt wirken, dass man glaubt, es stehe ein Mensch aus Fleisch und Blut vor einem. Gurskys Bilder wiederum weisen eine Ästhetik des Hyperrealismus auf, da sie die Realität nicht nur wiedergeben, sondern übersteigern. Die Exaktheit des fotografischen Mediums trifft auf Fiktion. Denn Gursky schafft in den Bildern eine ideale Wirklichkeit.

 

Der hyperreale Effekt gelingt ihm aufgrund der spezifischen Disposition des Mediums Fotografie: deren analoge und digitale Manipulierbarkeit. Eine Aufnahme kann Gursky nachbearbeiten – in der Dunkelkammer durch Retusche, Belichtungssteuerung oder chemische Veränderung und am Computer mit Software wie Photoshop. In den 80er und 90er Jahren nutzte Gursky bereits Quantel Paintbox, eine frühe Computergrafik- und Bildbearbeitungsstation. Insbesondere die digitale Manipulation des Fotos ermöglicht es ihm, Welten zu erschaffen, die in der Realität physisch nicht existieren können. Auf dem Foto Love Parade (2001) sieht man beispielsweise einen übergroßen wirkenden Ausschnitt der Menschenmassen, die bei der Musikparade in Dortmund mitlaufen. Der Wald, der die Menschen in einem Bogen umgibt, ist im rechten Bildteil sichtlich retuschiert und die Menschenmenge sieht wie in die Breite gedehnt aus.

 

Bisweilen schafft Gursky ein hyperreales Panorama auch durch ein Verfahren, bei dem er mehrere Kameras nebeneinanderstellt, die besonders großformatige Aufnahmen ermöglichen. In der Nachbearbeitung am Computer schneidet er dann die einzelnen Fotofragmente zusammen. Das Foto wahrt dabei die realistische Tendenz, denn zu sehen ist keine reine Abstraktion, sondern immer noch die Realität, nur in einer erweiterten Form.

 

Gurskys Fotos veranschaulichen somit gleich zwei der Gedanken, die Kracauer in seinem Essay Fotografie formuliert. Einerseits setzen sie das Potential des fotografischen Mediums um, unsere Sehweisen zu erweitern.[4] Andererseits suggeriert ihr Hyperrealismus, der durch die Übergröße und den Detailreichtum des Bildes entsteht, einen Wunsch nach Vollständigkeit. Deren Gegenteil, die Endlosigkeit, zählt Kracauer zum ästhetischen Grundprinzip der Fotografie. Unter den vier Eigentümlichkeiten der Fotografie (Affinitäten) sei die dritte, dass „Fotografien dazu [tendieren], die Vorstellung von Endlosigkeit zu erwecken. [...] Gleichviel, ob es sich um Porträts oder Bilder von Vorgängen handelt, ein Foto hält dem Medium nur dann die Treue, wenn es den Gedanken an Vollständigkeit ausschließt.“[5] Gurskys Fotos können aber als Versuch gelesen werden, eine gewisse Vollständigkeit darzustellen. Denn im Gegensatz zur Makroaufnahme erwecken die sich ausdehnenden Bilder den Eindruck, einen Ort oder ein Ereignis ganz ausschöpfen zu wollen – obgleich diese Ganzheit letztendlich unerreicht bleibt.

 

Das Foto Montparnasse (1993) zeigt einen Pariser Plattenbau mit unzähligen Fenstern, die sich wie ein Mosaik zusammenfügen. Kein Bildzentrum ist zu erkennen. Das Raster wirkt anonym, statisch und endlos reproduzierbar. Nur hier und da ist die Silhouette eines Bewohners zu erkennen. Montparnasse ist eines der typischen Bilder Gurskys, die sich streifenförmig in die Breite erstrecken. Ein Mensch kann mit bloßem Auge in der Realität nicht sehen, was die Gebäudeansicht darstellt. Im Foto erweitert sich das mögliche Blickfeld, denn aus mehreren Aufnahmen hat Gursky ein ‚Megabild‘ zusammengeschnitten. Zugleich suggeriert das Foto Unendlichkeit. In der Fantasie des Betrachters kann der Plattenbau immer weiter zu den Seiten hin wachsen. „Das Prinzip der inneren Reproduzierbarkeit aller Bildelemente erhebt das Prinzip über das konkrete Motiv.“[6]

 

Montparnasse von Andreas Gursky
Montparnasse von Andreas Gursky

Viele von Gurskys Fotos brechen mit einer weiteren fotografischen Affinität, die Kracauer als grundlegend für die Ästhetik des Mediums beschreibt: „ungestellte Wirklichkeit zur Akzentuierung des Zufälligen. Momentaufnahmen leben geradezu von Vorgängen, die sich aufs Geratewohl und am Rand abspielen.“[7] In der Geschichte der Fotografie ist Kracauer nicht der Erste, der das Momentum als entscheidendes Charakteristikum des Fotos hervorhebt. Spätestens seit Henri Cartier-Bressons Straßenfotografien gilt der entscheidende Augenblick als fotografisches Ideal. Dass eine Aufnahme dann ‚gelungen‘ ist, wenn sie einen einzigartigen Moment festhält, hat sich auch in unserem alltäglichen Verständnis von Fotografie als Vorstellung etabliert. In Gurskys Fotos spielt der Moment jedoch eine untergeordnete Rolle. Durch die Überlagerung mehrerer Motive in der Nachbearbeitung komponiert Gursky aus einer Vielzahl unterschiedlicher Aufnahmen die eine perfekte Situation.

 

Zu erkennen ist dieser Effekt in der Fotoreihe Boxenstopp I-IV (2007), für die Gursky etliche Aufnahmen in der Boxengasse einer Formel-1-Rennstrecke gemacht hat. Auf jedem Foto ist zu sehen wie Mechanikerteams zweier Rennställe einen Reifenwechsel durchführen. Der Boxenstopp ist der Augenblick schlechthin, alle Handgriffe geschehen unter Zeitdruck. Die Aufnahmen sind aber nachbearbeitet: In jedem Foto sind die Mechaniker in optimaler Pose platziert, wie in einem Gruppenbild arrangiert, ein Racegirl ist hinzugefügt und die Zentralperspektive genau korrigiert. Das Momenthafte löst Gursky durch die Bildbearbeitung auf und zugleich scheint trotzdem noch ein einzigartiger Moment dargestellt zu sein. Indem er mehrere Aufnahmen zusammenschneidet, manipuliert Gursky nicht nur die optische Dimension des Bildes. Er kondensiert eine Vielzahl an Momentaufnahmen zum einen Moment, der hyperreal wirkt. Was die „Realität“ des Abgebildeten so nicht hergeben möchte, kann Gursky durch die technischen Möglichkeiten des fotografischen Mediums erzwingen.

 

Boxenstopp I von Andreas Gursky
Boxenstopp I von Andreas Gursky

Auf diesen technologischen Aspekt geht Kracauer im Essay Fotografie nicht ein. Für die von ihm als „formgebende Tendenz“[8] bezeichnete Intention benötigt der Fotograf jedoch eine entsprechende Ausrüstung. Sie entscheidet darüber, welche Ergebnisse erzielt werden können und zieht auch die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich, die das Foto in der Galerie betrachten. Mit welcher Kamera wurde das Foto geschossen? Welchen Film nutzt der Fotograf? Mit welchem Programm montiert er das Bild?

 

Die Vision des Fotografen materialisiert sich zunächst in digitaler oder analoger Form in einem Kameragehäuse. Und erst durch Fotoentwicklung und Druck erhält sie ihre letztendliche Gestalt. Bis zum Galeriefoto bedarf es also einer Menge technischer Schritte. Und diese interessieren besonders die Foto-Community. In Onlineforen herrscht ein regelrechter Technologiefetisch. Hobbyfotografen tauschen sich dort über die Ausrüstung Gurskys aus.[9] So erfährt man, dass er für die großformatigen Bilder (teils 5x3 Meter) hohe Auflösungen benötigt und mit einer kostspieligen Kamera von Hasselblad und alten Plattenkameras von Linhof fotografiert. Der deutsche Regisseur Jan Schmidt-Garre rühmt sich in seiner ARTE-Doku Andreas Gursky - Long Shot Close Up, als erster dem Fotografen bei der Arbeit über die Schulter geschaut und dessen Ausrüstung im Zusammenspiel erfasst zu haben.[10] Was nur als Beiwerk zum Mythos um einen berühmten Fotografen erscheinen mag, ist in Wirklichkeit entscheidend für dessen fotografischen Stil. Nur durch die technologischen Fortschritte der Fotografie kann Gursky die Schärfentiefe herstellen und Montagen komponieren, die seinen Fotos den hyperrealen Effekt verleihen.

 

Es ist der Fotografie vielleicht eigen, dass Betrachter aus einem ersten Reflex heraus besonders stark dazu neigen, sie als realistische Reproduktion der Wirklichkeit anzusehen. Nach dieser Vorstellung kann sie die Dinge geradezu so abbilden, wie sie sind. „Damit erklärt sich eine der geläufigsten Reaktionen auf Fotografien: seit Daguerres Zeiten hat man sie als Dokumente von unbezweifelbarer Echtheit gewertet“[11], schreibt Kracauer über diese spezifische Wirkung von Fotos. Sie vermögen es, die Realität vermeintlich direkt, objektiv und unverfälscht wiederzugeben. Sie wirken als täuschend ‚echte‘ Kopien der wiedergegebenen Realität. Die Objektivität ist einer der großen Mythen, die das Foto von anderen künstlerischen Medien unterscheidet.

 

Gursky spielt mit dieser Wirkung der Fotografie, durch die sich das Medium von anderen Darstellungsformen abgrenzt. Seine Bilder komponiert er auf eine Weise, die sie selbst einer Malerei ähnlich werden lassen. Rhein II (1999), für 4,3 Millionen Dollar eines der teuersten Fotos der Welt, zeigt einen Flussabschnitt, Wiesen am Ufer, einen Gehweg sowie eine kleine Treppe, die an einem grasbewachsenen Damm hochführt. Klare Linien, trübes Licht und Zentralperspektive – Gursky setzt die Ideale der Düsseldorfer Fotoschule um, die ihn seit den 80ern geprägt haben. Den Flussdampfer und die Industrielandschaft, die im Originalfoto zu sehen waren, hat er retuschiert. Das Foto erinnert somit an Gemälde des Minimalismus oder der Neuen Sachlichkeit, insbesondere an Werke von Gerhard Richter oder Piet Mondrian. Die klinische Präzision von Farben und Linien im Bild wirken so, als betrachte man eine abstrakte Landschaftsmalerei.

 

Rhein II von Andreas Gursky
Rhein II von Andreas Gursky

In seinen Fotos erzeugt Gursky demnach eine Spannung zwischen der realistischen und der formgebenden Tendenz, wie sie Kracauer beschreibt. Das Resultat ist die Illusion eines Gemäldes mit fotografischer Ästhetik. Nach Kracauer hätten Gurskys Bilder noch „fotografische Qualität [...] solange sie erkennen lassen, dass der Fotograf sich dabei an den Text der Natur gehalten hat“.[12] Gursky wäre für ihn wohl ein Grenzfall, womöglich aber auch viele seiner Bilder für ihn keine Fotografie mehr: „Bildkompositionen sollte man vielleicht als eine besondere Spielart der graphischen Künste, nicht aber als Fotografie im strengen Sinne klassifizieren. Trotz ihrer augenscheinlichen Beziehungen zur Fotografie stehen sie ihr in Wirklichkeit fern.“[13] Gursky selbst bezeichnet sich als Fotokünstler, was als Kompromiss gelten mag.

 

Dieses Jahr ist der Düsseldorfer Fotograf siebzig Jahre alt geworden.

 


Fußnoten

  1. Kracauer, Siegfried: Fotografie, in: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1985, 36.
  2. Andreas Gursky wird zu den Fotografen der Düsseldorfer Fotoschule gezählt, die durch den Unterricht Bernd und Hilla Bechers an der Kunstakademie Düsseldorf von 1976 bis 1996 geprägt wurde. Die Schüler der Becher-Klasse erlernten eine Art der Fotografie, die Objektivität in den Vordergrund stellte. Ziel war es, die Fotografie von ihren expressionistischen Auswüchsen zu befreien, um zu einer dokumentarischen Objektivität zurückzukehren. Es galt auf all das zu verzichten, was die subjektive Fotografie bisher ausmachte – denn nur so könne man Objektivität erreichen. Bernd und Hilla Becher hatten diese Art des Fotografierens bereits in den 60er Jahren in Deutschland und im Ausland erprobt, als sie das Projekt verfolgten, die nach und nach verschwindenden Industriekomplexe in Europa fotografisch zu dokumentieren. Die drei Grundprinzipien ihrer Aufnahmen kann man auch noch in Gurskys Fotos finden: die Zentralperspektive, trübes Licht (keine Schatten oder Wolken) und Distanz zum Motiv.
  3. Eco, Umberto: Über Gott und die Welt, München/Wien 1985, 36.
  4. „Die moderne Fotografie [hat] unsere Sicht nicht nur wesentlich erweitert, sondern eben dadurch auch unserer Situation in einem technologischen Zeitalter angepaßt. Eines der Kennzeichen dieser Situation besteht darin, daß die Anschauungen und Perspektiven, die während langer Zeiträume der Vergangenheit den festen Rahmen für unsere Naturvorstellungen bildeten, relativiert worden sind.“ (Kracauer 1985, 33).
  5. Ebd., 45.
  6. Kemp, Wolfgang: Geschichte der Fotografie. Von Daguerre bis Gursky, München 2011, 119.
  7. Kracauer 1985, 45.
  8. Ebd., 36.
  9. Wie macht’s Andreas Gursky? (2008, 4. Januar), DSLR Forum, abgerufen am 28. November 2024, von https://www.dslr-forum.de/threads/wie-machts-andreas-gursky.274281/.
  10. Schmidt-Garre, Jan: Andreas Gursky - Long Shot Close Up, 2009.
  11. Kracauer 1985, 48.
  12. Ebd., 44.
  13. Ebd.